persönliche

Erfahrungsberichte

   

 

In unseren Erfahrungsberichten beschreiben Familien ihren Alltag mit Kindern mit Rett-Syndrom.

Ansprechpartnerin für Eltern

Justine Jens

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Inklusion geht an den Bedürfnissen vorbei

„Momentaufnahme“ in der Lebenshilfe-Zeitung

Wen dürfen wir heute unseren Lesern vorstellen?

Mein Name ist Gerald Best. Ich bin 56 Jahre alt, verheiratet und wohne zusammen mit meiner Ehefrau und unserer gemeinsamen Tochter Teresa in Weimar. Teresa ist unser einziges Kind. Sie ist 16 Jahre alt, leidet am Rett-Syndrom und an einer weitgehend therapieresistenten Epilepsie. Das Rett-Syndrom beruht auf einem Gendefekt auf dem X-Chromosom. Die Krankheit bedingt insbesondere schwerste motorische Beeinträchtigungen. Teresa kann weder gehen noch sich in sonstiger Weise fortbewegen. Bereits seit ihrem vollendeten 5. Lebensjahr ist sie in Pflegestufe III, nunmehr Pflegegrad 5, eingestuft. Die motorischen Beeinträchtigungen schließen eine aktive sprachliche Verständigung aus. Andererseits ist ihre Wahrnehmungsfähigkeit hervorragend und ihr passives Sprachverständnis gut entwickelt. Mit Augenbewegungen reagiert sie auf Fragen und fordert das gewünschte Verhalten ihrer Mitmenschen ein. Zur Grunderkrankung ist vor 11 Jahren eine außergewöhnlich schwere, therapieresistente Epilepsie hinzugetreten. Trotz medikamentöser Einstellung erleidet Teresa täglich epileptische Anfälle. Sie muss deshalb - „rund um die Uhr“ - gepflegt und betreut werden.

Wer steht heute an Ihrer Seite?

Die erforderliche Intensivbetreuung und -pflege unserer Tochter übernimmt zu einem großen Teil ihre Mutter. Das schließt für sie eine berufliche Tätigkeit aus. Um die prekäre Belastungssituation für uns ein bisschen zu kompensieren, gönnen wir uns von Zeit zu Zeit Aufenthalte in Kinderhospizen - Auszeiten, um neue Kraft schöpfen zu können. Sonstige Hilfen werden uns derzeit nicht zuteil. Aufgrund einer - wohl eher an einem deutlich geringeren Pflegebedarf ausgerichteten - nicht hilfreichen Empfehlung Dritter hatten wir uns zuletzt für einen ambulanten Pflegedienst der Lebenshilfe entschieden. Dieser sieht sich seit Anfang Mai dieses Jahres nicht mehr imstande, unsere Tochter zu versorgen. Dies ist umso prekärer, als meine Frau im Januar 2019 chronisch erkrankt ist. Andere Personen, die uns entlasten könnten, gibt es nicht. Meine eigenen Belastungskapazitäten sind - nicht zuletzt aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit als Richter - weitgehend ausgeschöpft.

Was nervt Sie im Alltag?

Teresa besucht seit 2011 ein Förderzentrum in Weimar. Doch außerunterrichtliche Angebote gibt es für sie nicht, obwohl sie hierauf angewiesen ist - gerade auch wegen der kurzen Schulöffnungszeiten. Der Unterrichtsumfang, der unserer Tochter zuteil wird, wird ihrem pädagogischen Förderbedarf nicht ansatzweise gerecht. Das Problem wird durch die langen Schulferien noch verstärkt. So wurde in einem Gutachten zum sonderpädagogischen Förderbedarf der Erfolg ihrer Beschulung in Frage gestellt - und zwar wegen der langen Ferienzeiten.

Die lange Unterbrechung des Schulunterrichts könnte nur durch ein sonderpädagogisches Ferienprogramm für unsere Tochter kompensiert werden. Teresas Schule bietet zwar eine sonderpädagogische Betreuung für schwerst-mehrfach behinderte Schüler in einzelnen Ferien an. Diese Programme richten sich jedoch grundsätzlich nur noch an solche Schüler, deren beide Elternteile eine berufliche Tätigkeit ausüben. Entsprechende adäquate Ferienprogramme anderer Einrichtungsträger gibt es im näheren Umkreis unseres Wohnortes (Weimar) nicht.

Dies mag u.a. damit zusammenhängen, dass der Aufwand für die Organisation, Vorbereitung und Durchführung besonderer Freizeitprogramme für schwerst-mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche extrem kostenintensiv ist. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer besonderen Beeinträchtigungen auf eine spezielle 1:1-Betreuung und pflegefachlich qualifiziertes Personal angewiesen. Dessen Finanzierung stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Kein Einrichtungsträger im Umkreis unseres Wohnortes vermochte bislang hinreichend qualifiziertes Personal zu stellen. Die Betroffenen sehen sich teilweise mit kaum überwindbaren Hindernissen konfrontiert, wenn sie selbst eine entsprechende Integrationshilfe organisieren wollen. Anders als eine Begleitung für den Schulunterricht wird eine Begleitung für die Teilnahme an einem Ferienprogramm in der Regel nur abhängig von Einkommen und Vermögen der Familienangehörigen finanziert. Abgesehen davon ist in Zeiten des „Pflegenotstands“ die Suche nach hinreichend qualifiziertem Pflegepersonal wenig erfolgversprechend.

Worüber haben Sie sich zuletzt so richtig gefreut?

Seit über einem Jahr wird Teresa in ihrer Schule von Lehrerinnen und weiteren pädagogischen Kräften gefördert und betreut, deren Arbeit als „erste Sahne“ bezeichnet werden kann. Wir als Eltern hoffen, dass dieser Zustand noch eine Weile anhält. Darüber hinaus freue ich mich jeden Tag, an dem ich Zeit mit meiner Tochter verbringen kann und sie mir dies mit ihrem für sie typischen herzlichen Lachen belohnt. In solchen Momenten wird mir immer wieder bewusst, dass ich unser anstrengendes Leben gegen kein anderes eintauschen möchte.

Was halten Sie von der aktuellen Debatte über Inklusion?

Diese Debatte geht an unserer und der Lebenswirklichkeit anderer betroffener Familien mit schwerst-mehrfach behinderten Angehörigen vorbei. Symptomatisch dafür ist die nach wie vor zu beobachtende Vernachlässigung der Kernanliegen schwerst-mehrfach behinderter Menschen. Diese sind aufgrund ihrer Beeinträchtigungen stärker als andere darauf angewiesen, auch außerhalb des Schulunterrichts in ein soziales Umfeld einbezogen zu werden, in dem sie Interaktionen mit anderen Menschen erleben und sich weitere Erlebniswelten erschließen können. Die Eltern selbst können die sozialen Bedürfnisse ihrer schwerst-mehrfach behinderten Kinder allein nicht hinreichend befriedigen. Das gilt umso mehr, als sie sich ohnehin schon stets „am Limit bewegen“, um den Pflegealltag bewältigen zu können. Pflegende Angehörige schwerst-mehrfach Behinderter bewegen sich in der Unsichtbarkeit. Sie kämpfen - zumal heute in Zeiten eines Pflegenotstands - manchmal sogar um das physische Überleben ihrer Kinder. Die Schwerpunktsetzungen heutiger Inklusionsbemühungen verfehlen teilweise die elementaren, mitunter existentiellen Bedürfnisse schwerst-mehrfach behinderter Menschen. Angesichts solcher Ausblendungen erscheint der Diskurs, insbesondere soweit er von selbstgerechten Ideologen bestimmt wird, oft abgehoben und lebensfremd.

Wie sieht für Sie ein perfekter Sonntag aus?

Ein ca. zwei bis dreistündiger Ausflug zusammen mit meiner Tochter, bestehend aus einer Autofahrt zur Leuchtenburg bei Kahla, begleitet von Songs der Rolling Stones und begeistertem Lachen von Teresa, einem gemeinsamen Aufstieg zur Burg auf einem rollstuhlgerechten Weg - und das Ganze ohne epileptische Anfälle!

Anderssein ist eine Superkraft

Als ich im Sommer dieses Jahres gefragt wurde, ob ich die Betreuung eines kleinen Rett-Mädchens übernehmen möchte, wusste ich nicht, was mich erwarten würde. War ich der Aufgabe gewachsen? Wie würde die Kleine auf mich reagieren? Was würden wir alles gemeinsam erleben? An welche Grenzen würde ich womöglich stoßen? Viele Fragen gehen uns durch den Kopf, wenn wir vor einer neuen, unbekannten Aufgabe stehen und wir einen fremden Menschen kennenlernen, dem wir einen festen Platz in unserem Leben schenken möchten. So viele Fragen, die uns niemand beantworten kann. Als ich die Betreuung und Pflege der Kleinen übernommen habe, durfte ich lernen, dass wir die Dinge manchmal einfach auf uns zukommen lassen, uns ihnen mit offenem Herzen und freiem Kopf entgegenstellen müssen. Auf manche Begegnungen, auf manche Situationen, kann man sich nicht vorbereiten, sondern muss sie einfach selbst erleben und annehmen.

Schon bei der ersten Begegnung hat die Kleine mich angelächelt, mir in die Augen geschaut und es mir leicht gemacht sie kennenzulernen. Jedes Kind ist auf seine Art und Weise einzigartig und etwas ganz besonderes. Jedes Kind hat eigene Interessen und Vorlieben, die man mit Geduld und Zeit zu erkennen und verstehen lernt. Auch wenn die Rett-Mädchen sich sprachlich nicht äußern können, zeigen sie uns durch Gesten, Laute und vor allen Dingen ihr Lachen, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Wie wir, haben auch sie Lieblingslieder, die sie beruhigen oder vor Freude wippen und hüpfen lassen. Lieder, die man immer wieder mit ihnen singt, Geschichten, die man ihnen immer wieder erzählt oder vorliest, erkennen sie wieder und freuen sich jedes Mal aufs Neue, wenn sie die bekannten Worte hören.

Auch ihre Aufmerksamkeit kann immer weiter gefördert werden. So reagieren die Kinder besonders gut auf Spielsachen, die sich bewegen oder bunt leuchten. Das kleine Mädchen, welches ich so intensiv kennenlernen darf, hat eine besondere Vorliebe für die Discokugel, die bunte Lichtpunkte über die Zimmerdecke jagt, welche immer in Bewegung sind. Sie wird dadurch ganz ruhig und verfolgt die Lichter mit den Augen. Da die Rett-Mädchen uns keine Fragen über die Welt stellen können, liegt es an uns ihnen die Welt zu erklären. So verbinde ich die bunten Lichter an der Zimmerdecke beispielsweise gerne mit den Polarlichtern am Himmel, welche im Norden zu sehen sind.

Viele Menschen verhalten sich Menschen mit Behinderung gegenüber unsicher, wissen nicht wie sie „richtig“ mit ihnen umgehen sollen und fühlen sich in ihrer Nähe unwohl. Den richtigen Umgang mit ihnen kann man jedoch erst lernen, wenn man sich auf die Kinder einlässt, ihnen Zeit schenkt. Man muss mit jedem Menschen Zeit verbringen, um ihn richtig kennenzulernen, so auch mit den Rett-Mädchen, die man durch ihr liebenswertes Wesen schnell ins Herz schließt. Wenn man den Kindern mit Angst begegnet, baut man automatisch Grenzen auf, die einem die Beziehung zu ihnen erschweren. Begegnet man ihnen jedoch offen und mit einem Lächeln im Gesicht, spüren sie die fröhliche Atmosphäre und zeigen uns, wer sie sind.

Wir wissen nicht, was sie denken oder wie sie die Welt und ihre Umgebung wahrnehmen. Viele Menschen laufen einfach durch die Welt, ohne sie sich genau anzusehen und alles auf sich wirken zu lassen. Rett-Mädchen dagegen nehmen jeden Ton genau wahr, jede Veränderung, haben so viele Sinneseindrücke auf einmal, dass sie während des Spaziergangs oft innehalten, um alles in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Aber auch wenn sich ihre Welt von unserer Welt unterscheidet, ist es nicht schwer mit ihnen auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Sie sind unglaublich neugierig und wollen alles ganz genau erkunden. Auch wenn sie manchmal scheinbar ziellos ihren Blick schweifen lassen, bedeutet das nicht, dass sie sich nicht konzentrieren können. Jeder träumt mal gerne und muss in diesen Tagträumen Erlebtes verarbeiten. Menschen, die zwischendurch einfach mal abschalten können, gelten außerdem als die glücklichsten. Man wünscht sich nichts sehnlicher, als dass die Kinder glücklich sind und ihr Leben auf ihre Art und Weise genießen können. Die Rett-Mädchen können kein selbstständiges, selbstbestimmtes Leben führen, sondern sind ein Leben lang auf die Unterstützung und Hilfe ihrer Familien, Freunde und Pfleger angewiesen. Da sie uns nicht sagen können, was sie beschäftigt, fragen wir uns oft, wie es wohl in ihnen aussieht. Auch wenn sie in ihrer Entscheidungskraft eingeschränkt sind, bin ich mir sicher, dass sie sich innerlich immer für einen glücklichen Weg entscheiden und ihr Glück auf ihre Weise finden. Ansonsten könnten sie unmöglich so viel lachen, mit so wachen Augen die Welt betrachten und erleben.

Wenn sie sich freuen oder uns etwas bestimmtes, wie z.B. Dankbarkeit, mitteilen wollen, stoßen sie Laute aus, umarmen uns, drücken ihre Stirn gegen unsere, schauen uns lange und intensiv in die Augen, legen ihre Hand auf unsere oder schenken uns ihr Lächeln. All das sind Dinge, die sie können und die uns zeigen, dass wir ihnen genauso viel bedeuten, wie sie uns bedeuten. Man darf sich nicht immer auf die Dinge versteifen, die sie nicht können, sondern muss sich über die Dinge bewusst werden, mit denen sie uns jeden Tag aufs Neue begeistern. Man sollte sich nicht die ganze Zeit fragen, was sie vielleicht einmal nicht mehr können werden, sondern sollte sich immer wieder vor Augen führen, was die Kinder aus eigener Kraft, die wir fördern und unterstützen, noch erreichen können. Wir helfen den Mädchen über sich hinauszuwachsen und das Beste aus sich herauszuholen. So lernen die Kinder vielleicht stehen und laufen, lernen zuzuhören und mit ihrem Talker umzugehen, der ihnen die Kommunikation mit uns erleichtert. Wenn wir aufgeben, haben sie keine Chance, aber so lange wir für sie eintreten, uns für sie stark machen und ihnen einen Platz in der Gesellschaft sichern, ist alles möglich, damit sie glücklich sind. Und das ist doch das, für das alle kämpfen, ob Menschen mit Handicap oder gesunde Menschen. Um ihr Glück.

Viele Menschen sprechen Menschen mit Behinderung einen geringeren Wert zu, betrachten sie anders als gesunde Menschen. Diese fehlerhafte Ansicht kommt daher, dass sie sich nicht trauen, nicht mutig genug sind, Andersartigkeit als etwas besonderes, etwas Einzigartiges anzusehen. Auch wenn viele ihnen keinen Platz in der Gesellschaft zusprechen, wissen wir um ihren Wert und stehen für sie ein, so wie sie für uns einstehen. Sie lachen jeden Tag mit uns, verzeihen uns sofort, wenn wir einen Fehler machen, akzeptieren uns so wie wir sind und lieben uns für das, was wir für sie tun. Diese Superkraft, die sie besitzen und uns immer wieder schenken, dürfen wir nie vergessen: nämlich das Glück in kleinen Dingen zu sehen und die bleibenden Sorgen zu akzeptieren und anzunehmen. Es liegt in unserer Verantwortung die Grenzen einzureißen, nicht zuzulassen, dass die Kinder und wir eingeschränkt werden und die Mädchen an unserer Welt teilhaben zu lassen.

Rett hat viele Schattenseiten, die uns oft vor scheinbar unlösbare Probleme stellen. Fakt ist, dass aus medizinischer Sicht diese Genmutation bislang noch nicht heilbar ist. Dennoch kann man diese therapeutisch begleiten und somit unfassbare Fortschritte erzielen. Die Kinder lernen uns zu verstehen, so wie wir lernen sie zu verstehen. Auch wenn man den Betroffenen nicht jede Tür öffnen kann, kann den Kindern durch die Therapie ein bestimmter Teil des Lebens ermöglicht werden, den auch gesunde Kinder täglich genießen dürfen.

Man kann sie lieben und ihnen mit dieser Liebe unvergessliche Erlebnisse, wie Ausflüge in den Zoo, ans Meer, auf den Reiterhof oder ins Schwimmbad erschaffen, die ihnen Lebensqualität schenken und sie glücklich machen. Den Rett-Mädchen bereitet man so leicht eine Freude. Schon mit einem Prinzessinnenmärchen oder einem kleinen Tanz lässt man ihnen Raum zum Träumen und frei fühlen. Wir erleben mit ihnen wunderschöne, prägende Erfahrungen, an die wir zurückdenken können, die uns Trost und Kraft schenken, wenn mal schlechte, schmerzende Momente auf uns zukommen. Dieses Geschenk von ihnen, erwidern wir mit unserer Mühe, unserer Hoffnung, unserer Kraft und unserem Kampf um Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. Wir dürfen nie den Glauben an die Kinder und ihre Fähigkeiten verlieren. Wir müssen sie mit anderen Rett-Mädchen zusammenbringen, sie mit ihnen spielen lassen, den Kindern somit Raum in ihrer Welt ermöglichen und ihnen die Tür zu unserer Welt stets offen halten.

Wenn wir keine Grenzen zulassen, ist auch ihre Welt voll von grenzenlosen Möglichkeiten, wenn auch auf andere Art und Weise wie unsere. Auch außerhalb der Therapie, außerhalb von vielen Menschen, können wir mit ihnen alleine so viel Freude erleben, die sich auf die Kinder überträgt. Man schreibt seine eigene Geschichte mit den Kindern und zaubert somit nicht nur den Kleinen, sondern auch sich selbst ein Lächeln ins Gesicht und vor allen Dingen ins Herz. So denkt man nicht nur mit Sorge an sie, sondern vor allem mit Stolz und Hoffnung.

Wir müssen nur zulassen, dass sie unser Herz berühren, um sie zu verstehen.

Leah Klein

Mein erster Urlaub ohne Familie

Einen kleinen Kloß hatte ich schon im Hals, als Denise sich umdrehte und mit Ihrer Betreuerin Melina an der Hand, den Flur entlang zu Ihrem Zimmer ging…

Das war der Abschied für 5 Tage ohne vertraute Person.

Während meiner 3-stündigen Autofahrt nach Hause gingen mir 1000 Dinge durch den Kopf:

Wird es Denise gut gehen? Vertragen sich die Rett-Mädchen untereinander? Werden die Betreuer gut auf mein kleines Mädchen aufpassen? Hab ich alles Wissenswerte im „Über-mich-Heft“ notiert? Wie empfindet Denise das? Versteht Sie, dass es nur ein kurzer Abschied ist und ich Sie wieder abholen komme?

Aber am schlimmsten das Gefühl, ich habe meine Tochter weggegeben, abgeschoben! Doch so ist es ja nicht, Kinder müssen raus in die Welt gehen, auch Kinder mit Handicap haben ein Recht auf ganz „normale Sachen“ wie eben eine Ferienfreizeit mit vielen tollen Aktivitäten, die man vielleicht eher mit gleichaltrigen macht statt mit den Eltern, Geschwistern oder Großeltern.

Es dauerte einen Tag bis ich mich an die Situation gewöhnte, das Denise nicht da ist, keine Windeln wechseln, niemanden füttern, nicht ständig gucken das Sie nichts verbotenes in den Mund steckt, niemand da den ich früh um 6 Uhr zum Taxi in die Schule schaffe (und das sind nur einige Sachen die so anfallen )

Am ersten Abend telefonierte ich mit Melina und Sie erzählte mir wie gut es Denise geht, Augen auf und gleich am strahlen, wie viel Spaß Sie mit den anderen 4 Rett-Mädels hat und das die zwei sich prima verstehen. Am zweiten Tag kam sogar eine Postkarte aus Erfurt an.

Das beruhigte mein Mutti-Herz ungemein, und auch ich konnte die kleine Auszeit jetzt voll genießen.

Endlich mal Zeit für sich und für Dinge mit den Geschwistern, die sonst immer nur bedingt möglich sind.

Schon am Anreisetag in Erfurt war ich von den 5 Betreuerinnen, Melina, Moana, Sabrina, Susi, Theresa und Annabel, sehr begeistert. Mit welcher Offenheit Sie auf jedes Kind zugingen, ohne Berührungsängste, liebevoll und bestens vorbereitet.

Durch die „Über-mich“- Hefte, die jedes Rett-Mädchen bei der Anmeldung mit abgegeben hat, wussten die Betreuer schon prima Bescheid. Was mag jemand gar nicht, mit was lässt Sie sich gut beruhigen, was schmeckt ihr besonders gut, wann geht´s ins Bett, welche Medizin, was kann jedes Mädchen und was geht gar nicht alleine uvm.

Den ersten Abend sind wir Eltern noch mit dort geblieben, nach dem gemeinsamen Abendessen, bezogen die Kinder ihre Zimmer, wir packten zusammen die Koffer aus und dann ging es für die Kids ins Bett.

Beim persönlichen Gespräch am Abend, auf der Sommerterrasse des Gasthauses „Am Luisenpark“, erzählten die Mädels ganz offen über sich, ihr Studium und wie viel Zeit Sie doch schon mit Rett-Mädchen verbracht haben. Alle dazugehörigen Symptome sind bekannt und man weiß was im Notfall zu tun ist. Ich war schwer begeistert von den Mädels aus NRW!

Nach 5 Tagen ohne meine Denise machte ich mich wieder auf in das 300 km entfernte Erfurt um meine Maus in die Arme zu nehmen und zu knuddeln.

Doch die Freude beim Wiedersehen war überschaubar, ein kleines Lachen, ein kurzer Augenkontakt, mehr kam nicht. Man sah Denise an das es ihr richtig gut geht, sie sich wohl fühlt und rundum zufrieden mit der Situation ist.

Alle Rett-Mädchen hatten das gleiche, weiße und selbstbemalte T-Shirt an. Sie bekamen alle ein tolles Tagebuch mit Bildern und Berichten von der Freizeit (wie Zoobesuch, in der Eisdiele, im Pool plantschen, Spaziergänge etc.) von Ihrer Betreuerin mit nach Hause.

Ein letztes Mal wurde gemeinsam Mittag gegessen, bevor jede Familie Ihren Heimweg antrat.

Mein Fazit: Jederzeit wieder, würden wir unsere Denise bei einer Ferienfreizeit des Rett-Vereins anmelden. Tolle Betreuerinnen und alles bestens vom Verein organisiert. So fällt es einem als Eltern viel leichter sein Kind gehen zu lassen…

Constanze Hohlfeld

Die Liebe hat das Wort

Mädchen, die vom Rett-Syndrom betroffen sind, behalten eine erstaunliche Vielfalt bei ihren Methoden und Fähigkeiten zu kommunizieren. Einige Mädchen bewahren ihr Sprachvermögen in unterschiedlichen Ausprägungen. Es kann sein, dass plötzlich Worte herausplatzen, wenn man am wenigsten damit rechnet. Oder wenn ihr Bedürfnis groß und ihre Gefühle stark genug sind, sieht es so aus, als ob ein Licht aufblitzt, der Schalter jedoch gleich darauf wieder umgelegt wird. Einige Mädchen benutzen ihre Augen und ihren Blick zur Kommunikation, während andere in der Lage sind, die Hände zu gebrauchen, um auf etwas zu zeigen oder anderen Leuten ein Foto zu geben. Andere wiederum können Sätze zusammenfügen, indem sie mit einem Zeigestock auf sie zeigen oder eine Bildfolge auf einer Kommunikationshilfe berühren. Die Verständigung kann ganz einfach mit der Bedienung eines Knopfes erfolgen und sich mit der Zeit zu einer komplexen Sprache entwickeln, oder aber sie wird nie klar und funktionell.

Die Körpersprache ist ein äußerst wichtiges Mittel zur Verständigung, auch wenn es manchmal für außenstehende Beobachter schwierig und heikel ist, sie zu interpretieren.
Sich über all die verschiedenen Kommunikationsmethoden klar zu werden, scheint auf den ersten Blick für die Familien, das Lehrerteam und sogar für die Sprachtherapeuten vollkommen unmöglich zu sein.
Eltern berichten immer wieder, dass ihre Töchter wesentlich mehr verstehen, als sie zeigen können. Sie sehen, wie ihre Kinder über Witze lachen oder über Missgeschicke, die Familienmitgliedern passieren. Sie sehen, wie sich die Augen ihrer Töchter kurz dem Gegenstand der Diskussion zuwenden oder wie sie sich als Antwort auf eine Frage bewegen. Es ist wichtig, das Sprachaufnahmevermögen unserer Töchter anzuregen, um ihr Leben zu bereichern, um eine Basis für eine erweiterte Verständigung zu schaffen und um weiterführende Lernkonzepte zu entwickeln.

  • Ich rede mit ihr genauso, als ob sie alles verstehen würde, denn vielleicht ist es so. Es ist so. Ich beschreibe ihr alles bis in die kleinste Einzelheit. Ich erkläre ihr, warum der Wind heute weht und dass es heute kälter ist, weil sich die Sonne hinter den Wolken versteckt. Alles und jedes wird diskutiert. Oft „antwortet“ sie mir mit ihren Augen oder indem sie Geräusche macht. Ich höre jeder ihrer Äußerungen zu.
  • Weil Maria keinen Versuch unternahm zu sprechen, sagte man mir, sie benötige keine Sprachtherapie. Wir gingen mit unserer Tochter zu einem privaten Sprachtherapeuten und, man höre und staune, nachdem sie dazu aufgefordert wurde, konnte sie Bilder erkennen. Wir fingen mit zwei einfachen Bildern an, wie z. B. einer Ente und einem Ball. Wir fragten Maria dann, welches Bild die Ente zeigte und sie berührte das Entenbild. Natürlich dauerte es manchmal eine Weile bis sie reagierte.
  • Es ist ein gutes Gefühl, mit ihren Lehrern, Therapeuten und anderen Helfern in der Schule zu reden und zu hören, dass sie alle von ihrer Fähigkeit zur Kommunikation überwältigt sind. Das Wissen, wie viel unsere Töchter tatsächlich verstehen, macht uns letztendlich weniger einsam!

Oft scheint es, als ob Mädchen mit Rett-Syndrom genau wissen, was sie sagen wollen, aber aufgrund sprachlicher Apraxie nicht die entsprechenden Mechanismen in Gang setzen können, um zu sprechen. Meist haben diese Mädchen zusätzlich noch motorische Probleme im Mundbereich, die die Sprache genauso beeinflussen, wie das Kauen und Schlucken. Sich mit Hilfe von Zeichensprache, Gesten oder anderen Arten der Körpersprache verständlich zu machen, wird durch die mangelnde Fähigkeit, ihre Hände zielgerichtet zu benutzen und durch ihre Apraxie verhindert.

Obwohl sie weiß, was sie tun will, kann es sehr schwierig für sie sein, Computer, Schalter oder andere Geräte zu benutzen, da dafür zuviel Koordination zwischen Hand und Auge nötig ist. Sogar ihr Blick ist von der Apraxie betroffen, so dass das Kommunizieren mittels Augenbewegung schwierig werden kann. Verständlicherweise könne alle diese Umstände sehr frustrierend auf sie wirken, so dass der Motivation ein sehr hoher Stellenwert zukommt. Glaubt sie, sie erreicht was sie will, auch ohne zu kommunizieren, wird sie vermutlich der Anstrengung aus dem Weg gehen, weil es für sie wirklich sehr schwierig ist. Sie wird den einfachen Weg wählen und darauf warten, dass die anderen ihre Bedürfnisse und Wünsche erahnen. Die Verständigung untereinander ist ein Grundbedürfnis der Menschen und die “Nicht-Kommunikation“ kann zu Selbstgefälligkeit, Frustration, sozialer Vereinsamung oder schweren Verhaltensstörungen führen.

  • Durch die Benutzung taktiler und visueller Reize, zusammen mit dem gesprochenen Wort und einer Verbindung zu einem Objekt, scheint Ann sich wirklich auf ihr Leben einzustellen. Die fühl- und tastbaren Zeichen erhält sie durch Rezeptoren in den Handballen. Ann mag das und sie steht ganz still, wenn wir ihr diese Möglichkeit der Kontaktaufnahme geben.
  • Ich weiß, es ist eine maßlose Vereinfachung, aber manchmal kommt mir die Verständigung mit Sherry so vor, als ob ich versuchte, jemanden aus einer Telefonzelle anzurufen, und zwar bei schlechtem Wetter, starkem Verkehr und unvorteilhaftem Gelände. Ich hatte Mühe, ihre verzerrte Nachricht aus dem Wirrwarr der Störungen herauszufiltern. Aber was ist die Nachricht und was sind Interferenzen?
  • Als Rebecca vier Jahre alt war, waren wir fest davon überzeugt, sie würde nie mit uns kommunizieren. Wir fanden heraus, dass sie einige Dinge sehr clever handhabte. Z. B. lachte sie über Witze in der Muppet-Show, sie hatte eine ausgeprägte Vorliebe für süße Milchprodukte, sie quengelte, wenn sie durstig war, usw. Deshalb setzen wir uns über die Theorie eines Artikels hinweg, der besagte, dass Mädchen mit RS teilnahmslos sind. Allerdings hätten wir nie gedacht, sie würde eines Tages Lesen und Schreiben können. Auf einer Tagung hörte ich jemanden über „gestützte Kommunikation“ referieren. Ich fragte nach Erfahrungen mit dem Rett-Syndrom und konnte es kaum glauben, als die Referentin sagte, sie würden auch mit Mädchen mit Rett-Syndrom arbeiten. Wieder zu Hause erzählte ich Rebecca sofort davon und ich weiß, dass sie jedes Wort verstanden hatte – Rebecca lächelte tagelang vor sich hin!
  • Manchmal fragt mich jemand, was Sherry mag und was nicht. Anstatt für sie zu antworten, sage ich jetzt immer öfter: „Fragen wir doch Sherry selber“, auch, wenn ich die Antwort zu wissen glaube. Auch spreche ich direkt mit Sherry, wenn wir in einer Gruppe sind, so dass die Leute sich von ihrer Fähigkeit zu antworten überzeugen können und auch sehen, wie sie dies tut. Viele Leute fühlen sich jetzt viel wohler, wenn sie mit ihr kommunizieren und sie freuen sich sehr, wenn Sherry antwortet. Dies ist auch der Fall, wenn ich nicht direkt neben Sherry stehe.

Aber wo soll man anfangen?

Es gibt viele Möglichkeiten, ihr Wege zur Verständigung beizubringen. Das hängt davon ab, was sie tun kann und wie sie es tut. Zuerst sollte man sich die Zeit nehmen, zu beobachten, was sie selbst für Wege gefunden hat, um zu kommunizieren. Es kann sein, dass die Strategie zwar clever, aber nicht sehr effektiv ist. Alle Kinder kommunizieren auf irgendeine Art. Vielleicht leckt sie sich die Lippen, wenn sie hungrig ist, reibt sich die Augen bei Müdigkeit oder legt ihren Kopf auf den Tisch, wenn sie sich langweilt? Wenn sie etwas Bestimmtes haben will, geht sie vielleicht darauf zu oder starrt den entsprechenden Gegenstand an. Sie könnte sich nach einem Objekt ausstrecken, es berühren, darauf klopfen oder es mit ihren Augen fixieren, so dass ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Sie hat sehr ausdrucksstarke Augen und kann mit diesen „sprechen“. Ihre Fähigkeit, mit den Augen zu deuten oder Gegenstände zu fixieren, wächst mit zunehmendem Alter. Es kann auch sein, dass sich ihr allgemeiner Aktionsradius vergrößert oder sich ihre Handkoordination verbessert und sie sich somit besser ausdrücken kann.
Auch wenn die Botschaft Ihrer Tochter zunächst weder zielgerichtet noch personenbezogen ist, können Sie ihr Verständnis und Ihre Anerkennung für die Äußerungen Ihrer Tochter dadurch zeigen, dass Sie ihre Aktionen mit Worten versehen. Ihre Aktionen werden dadurch entschlossener und zielgerichteter. Wir alle kommunizieren auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln. Sie werden erkennen, dass in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Wege der Verständigung angebracht sind. Durch die Kombination verschiedener Kommunikationsmethoden wird sich Ihre Tochter wesentlich besser ausdrücken können. Zu Beginn ist es sehr wichtig die Motivation durch bedeutungsvolle Aktionen und Dinge zu fördern und stufenweise die Schwierigkeit zu erhöhen.

Ich fand, dass sie eine komplizierte junge Frau ist, die jede Menge zu erzählen hat. Leider hat sie nicht genügend Mittel und Wege, um sich zu äußern. Ihre stimmlichen Äußerungen/Schreie, Gekreische und Tränen bedeuten in unterschiedlichen Situationen verschiedene Dinge. Es kann sein, dass sie mit ein und demselben Geräusch auf Toilette möchte oder Aufmerksamkeit erregen will. Ein anderes Mal möchte sie nicht vom Hockeyspiel heimgehen oder beim Skilaufen den Berg schneller abfahren, oder sie will überhaupt nichts mehr tun. Natürlich versuche ich herauszufinden, was sie uns zu sagen versucht, indem ich ihr verschiedene Wahlmöglichkeiten gebe und so die Auswahl einenge. Sie hört auf zu schreien, sobald ich erkannt habe, was sie meint. Dann lächelt sie vor Erleichterung und ist froh, dass ich endlich fündig geworden bin! Ich weiss auf welche Art sie sich verständlich macht und wie sie mit mir spricht. Am besten beobachtet man mit den Augen ihre Körpersprache und hört mit dem Herzen hin. Dabei hilft es, sich in ihre Lage zu versetzen und sich vorzustellen, was sie uns zu sagen versucht.

Im Idealfall arbeiten die Eltern, Lehrer, Therapeuten und andere Betreuungspersonen zusammen, um einen gemeinsamen Plan zur weiteren Vorgehensweise aufzustellen. Der Plan sollte in kleine Schritte unterteilt sein und die Anweisungen sollten praktisch und präzise sein, so dass man sie mühelos in den Alltag einbauen kann. Ein übereinstimmendes Vorgehen ist unbedingt nötig. Wenn Sie ein Programm zur Kommunikationsförderung planen, ist es sehr wichtig alle Aspekte genau unter die Lupe zu nehmen. Dem Kommunikationsprogramm muss die Einschätzung der Interessen Ihrer Tochter zu Grunde liegen und die Art, wie sie bereits erfolgreich kommuniziert, muss in Betracht gezogen werden.
Sie müssen auf Ihren Erfolgen aufbauen und dürfen nicht plötzlich neue Methoden einführen. Wenn sie z. B. bisher Ihre Hand nahm und Sie zum Garagentor zog, wenn sie mit dem Auto fahren wollte, werden Sie wenig Erfolg haben, sie zu motivieren, für die gleiche Aktion irgendwo im Haus auf einem Kommunikationsgerät auf ein Auto zu deuten.

Quelle: Das Rett-Syndrom-Handbuch von Kathy Hunter

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