Symptome und Behandlung

   

 

Hier erhalten sie Informationen rund um das Rett-Syndrom, wie sie es erkennen und behandeln können.

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Justine Jens

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Lebenserwartung – Ergebnisse zum Langzeitüberleben

Statistischer Vergleich

Die Sterblichkeit bei Menschen mit Rett-Syndrom beträgt nach dem britischen Rett Register 1,2 % pro Jahr (1). Bei den 22 Kindern aus der Orginalpublikation von Andreas Rett (2) die von 1966 – 2008 verfolgt wurden, fand sich ein Überleben bis zum Alter von 20 Jahren nur bei 31,1 % der Kinder. Berg und Hagberg berichteten dagegen bei 54 Mädchen und Frauen ein Überleben von 82 % im Alter von 24 Jahren (3). In der Analyse der australischen Daten von 332 Mädchen fand sich ein Überleben bis zum 20 Lebensjahr bei 78,3 % (4). Während in der britischen Übersicht 26 % der Todesfälle unerwartet waren und auch in der schwedischen Gruppe plötzliche, unerwartete Todesfälle häufig auftraten, fand sich bei den australischen Daten ein anderes Bild.

Daher sind die folgenden Daten statistisch korrekt, im Einzelfall aber vielleicht nicht hilfreich und ersetzen nicht die Einschätzung der behandelnden Ärztinnen/Ärzte. Besonderes Augenmerk gilt den plötzlichen, unerwarteten Todesfällen, die aus völliger Gesundheit meist über Nacht passieren. Für die betroffenen Familien ist das hochdramatisch und kompliziert durch die Tatsache, dass es sich um eine ungeklärte Todesursache handelt. Das kann neben der Trauer weitere Folgen für die Familie haben, z. B. mit Einschaltung der Staatsanwaltschaft. Daher ist die Kenntnis, dass es diese Form des Sterbens gibt, bedeutsam und die Verbreitung eine wichtige Aufgabe. Im Folgenden werden die möglichen Ursachen besprochen. Wichtig erscheint mir aber bei allen Zahlen und aller Statistik, dass die Qualität der Behandlung des Rett-Syndroms im Fluss ist. Dies zeigt auch der folgende Vergleich der Daten aus Österreich mit den australischen Zahlen. Daraus ergibt sich eine stetige Verbesserung der Prognose.

Die meisten Todesfälle traten im Zusammenhang mit Lungenproblemen auf. Eine Aspiration von Nahrung in die Lunge führte bei 11 Kindern (27,5 %) zum Tode, eine Lungenentzündung bei 10 Kindern (25 %) und eine Atemstörung bei 3 Mädchen (7,5 %) (4). Bei weiteren 3 Kindern fand sich ein Zusammenhang mit epileptischen Anfällen (7,5 %). Andere Ursachen wie ein Schlaganfall oder Ernährungsstörung kamen nur in Einzelfällen vor. Nicht berücksichtigt oder diskutiert wurde, bei wie vielen der Mädchen eine schwere Skoliose die Lungenprobleme begünstigt hat. In der schwedischen Gruppe wurde von milden Infektzeichen am Vorabend berichtet.


Mögliche Todesursachen

Sehr schwierig ist die Abgrenzung zum sog. SUDEP (sudden unexpected death in epilepsy). Viele der Kinder mit Rett-Syndrom haben eine Epilepsie und damit besteht die Möglichkeit, einen plötzlichen und unerwarteten Tod bedingt durch die Epilepsie zu erleiden. Wichtig ist festzustellen, dass nicht die Epilepsie an sich, sondern bisher ungeklärte Ursachen zum SUDEP führen. Ausdrücklich muss gesagt werden, dass nicht die medikamentöse Therapie der Epilepsie die Ursache für plötzliche, ungeklärte Todesfälle ist. Auch Unfälle im Rahmen eines Anfalls oder eine Aspiration sind nicht gemeint. Die Häufigkeit des SUDEP wird mit 0,2 -1 pro 1000 Personenjahre angegeben. Als Risikofaktoren bei Kindern wurden bisher die Behandlung mit mehr als 2 Medikamenten und niedrige Antiepileptikakonzentrationen im Blut identifiziert (5).

Da aber nicht alle Kinder und Jugendliche mit Rett-Syndrom, die plötzlich und unerwartet versterben, eine Epilepsie hatten und darüber hinaus die erwartete Häufigkeit des plötzlichen Versterbens bei Rett-Mädchen sehr viel höher liegt als beim SUDEP, muss es auch andere Ursachen geben. Die möglichen Ursachen sind nicht geklärt, fragliche Mechanismen sind Gegenstand der Forschung. Ein Erklärungsmodell betrachtet autonome Dysregulationen. Es gibt sowohl vom Monitoring bei Kindern, als auch aus dem Tierexperiment (6) Hinweise auf Störungen der Rhythmuskontrolle der Atmung. Weese-Mayer und Mitarbeiter konnten bei Rett-Mädchen im Vergleich mit Kontrollkindern zeigen, dass insbesondere im Vergleich Nacht- versus Tagableitung von Atmung und Herzfrequenz im Schlaf, die Atemfrequenz anstieg und unregelmäßiger wurde, ebenso zeigte sich eine Unregelmäßigkeit der Herzfrequenz (7). In einer Untersuchung bei 74 Mädchen mit Rett-Syndrom wurde gezeigt, dass es zu einer gestörten Herzfrequenzvariabilität und einer Verlängerung der Repolarisationszeit (QT-Zeit) am Herzen kommt (8). Die Autoren leiteten daraus die Aussage ab, dass die möglichen Herzrhythmusstörungen für die unerklärlichen, plötzlichen Todesfälle bei Rett-Mädchen verantwortlich sein könnten.

Sowohl Atmung als auch Herzfrequenz werden im Hirnstamm kontrolliert, es liegt daher nahe, eine gemeinsame Ursache in einem höheren System zu vermuten. Dysregulationen der Atmung und der Herzfrequenz können durch eine Störung der neuronalen Netzwerke im Hirnstamm entweder durch direkte entwicklungsbedingte Veränderungen oder durch einen gestörten Neurotransmitterstatus bedingt sein.

Die frühe Diagnosestellung und die Kenntnis der Komplikationen bei Kindern mit Rett-Syndrom können die Lebenserwartung bei guter Lebensqualität insgesamt deutlich verlängern, helfen aber nicht den plötzlichen, unerwarteten Tod zu verhindern. Nur die wissenschaftliche Analyse der Mechanismen hilft, Strategien zu entwickeln, die die gestörte Hirnstammregulation effektiv behandeln.

Aktuell gibt es noch keine sinnvolle, konkrete und etablierte Behandlungsstrategie, es besteht aber die Hoffnung, dass die Daten aus den Mausexperimenten Eingang in die klinische Behandlung finden. Zu empfehlen ist sicherlich die Durchführung einer EKG-Untersuchung und bei Atemregulationsstörungen eine Polysomnografie im Wachen und Schlafen.

Literatur

  1. Kerr AM, Armstrong DD, Prescott RJ, Doyle D, Kearney DL. Rett syndrome: analysis of deaths in the British survey. Eur Child Adolesc Psychiatry 6, Suppl1:71-74, 1997
  2. Rett A. On an unusal brain atrophy syndrome with hyperammonemia in childhood. Wien Med Wochenschr 116:723-726, 1966
  3. Berg M, Hagberg B. Rett syndrome update of a 25 year follow-up investigation in Western Sweden – sociomedical aspects. Brain Dev 23:S224-S226, 2001
  4. Freilinger M, Bebbington A, Lanator I, Klerk de N, Dunkler D, Seidl R, Leonard H, Ronen GM. Survival with Rett syndrome: comparing Rett´s original sample with data from the Australian Rett Syndrome Database. Dev Med Child Neurol 52:962-965, 201
  5. May TW, Pfäfflin M. Epidemiologische Daten zum plötzlichen, unerklärbaren Tod bei Epilepsie. Z Epileptol 19:60-70, 2006
  6. Stettner GM, Huppke P, Brendel C, Richter DW, Gärtner J, Dutschmann M. Breathing dysfunctions associated with impaired control of postinspiratory activity in MeCP2-/y knockout mice. J Physiol 579:863-876, 2007
  7. Weese-Mayer DE, Lieske SP, Boothby CM, Kenny AS, Bennett HL, Ramirez JM. Autonomic dysregulation in young girls with Rett syndrome during nighttime in-home recordings. Pediatr Pulmonol 43:1045-1060, 2008
  8. Guideri F, Acampa M, DiPerri T, Zappella M, Hayek Y. Progressive cardiac dysautonomia observed in patients affected by classic Rett syndrome and not in the preserved speech variant. J Child Neurol 16:370-373, 2001

Wilken B., Neuropädiatrie mit SPZ, Klinikum Kassel, (April 2011)

Stereotypien

Unter Stereotypien versteht man rhythmische Bewegungen, die hochgradig automatisiert sind und unbewusst ablaufen. Sie können, wenn überhaupt, nur durch starke Reize von außen unterbrochen werden.

Am auffälligsten sind die typischen Handstereotypien: Die Kinder kneten, reiben oder wringen die Hände vor dem Körper. Einige klopfen mit den Händen, z. B. auf die Schulter oder klatschen. Auch seitlich abgewinkelte Arme mit drehenden Handbewegungen, gleich einer Tempeltänzerin, kommen vor.

Viele Kinder entwickeln grobmotorische Stereotypien, die sich in Rumpfschaukeln, Oberkörperpendeln oder Trippeln auf der Stelle äußern. Auch das Zähneknirschen wird zu den Stereotypien gerechnet und tritt wie diese gehäuft in eher langweiligen oder im Gegenteil sehr fordernden Situationen auf.

Verdauungsprobleme

Eine Verstopfung liegt dann vor, wenn das Kind weniger als dreimal pro Woche Stuhlgang hat. Durch die Atemunregelmäßigkeiten schlucken viele Kinder Luft und haben daher mit Blähungen zu kämpfen. Die gestörte Verdauung beeinträchtigt das Allgemeinbefinden sehr.

Ursache für eine Verstopfung ist die Ansammlung von hartem voluminösem Stuhl im Mastdarm, der für die Mädchen sehr schwer oder auch gar nicht abführbar ist. Das Auftreten der Verstopfung ist generell bedingt durch die Kombination aus zu geringer Flüssigkeitszufuhr, zu wenig Ballaststoffen und zu geringer körperlicher Bewegung. Beim Rett-Syndrom ist das Risiko einer Verstopfung noch aufgrund folgender Faktoren erhöht:

  • allgemein niedriger Muskeltonus
  • verlangsamte Darmpassage
  • Medikamente (insbesondere Antiepileptika)
  • Skoliose

Hinzu kommt, dass viele Mädchen aufgrund bisher erfahrener Schmerzen oder Unbehagen den Stuhl absichtlich zurückhalten.

Man kann die Probleme durch ballststoffreiche Ernährung mildern und bei Bedarf medikamentös eingreifen. Auch ein regelmäßiges Toilettentraining ist hilfreich. Wird gegen die vorliegende Verstopfung nichts unternommen, kann sie zu ernsthaften Beschwerden führen. Die Stuhlansammlung wird mit der Zeit immer größer und kann durch Einrisse im Analbereich Blutungen verursachen. Im schlimmsten Fall kann der Kotstau einen kompletten Darmverschluss verursachen, der lebensbedrohlich ist und nur durch eine Notoperation behoben werden kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Eltern frühzeitig und regelmäßig etwas gegen die Verstopfung unternehmen. Daher sollte auch ein Tagebuch zusammen mit Kindergarten oder Schule geführt werden, damit fehlender Stuhlgang frühzeitig erkannt wird.


Ballaststoffreiche Ernährung

Die Basis für jede weitere Behandlung ist eine ballaststoffreiche Ernährung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr und -wenn möglich- regelmäßige Bewegung. Zur Unterstützung der Darmtätigkeit können regelmäßig Ballast- oder Quellstoffe wie Kleie, Leinsamen und Flohsamen verwendet werden. Diese können in Reinform der Nahrung beigemischt oder als fertige Zusatzprodukte in Form von löslichem Granulat oder Pulver verabreicht werden. Quell- und Ballaststoffe haben keine akute abführende Wirkung. Ihre Aufgabe ist eine dauerhafte Regulierung des Stuhlgangs. Wichtig ist, dass immer genügend Flüssigkeit zu diesen Präparaten gegeben wird. Erst in Verbindung mit Flüssigkeit quellen diese Stoffe auf, füllen den Darm und lösen so den natürlichen Stuhlgangreflex aus. Bei zu wenig Flüssigkeit kleben sie zusammen und verschließen den Darm. Daher sollten Ballaststoffe als Zusatzmittel nur sehr vorsichtig eingesetzt werden. In Obst, Gemüse und Vollkornprodukten sind ebenfalls viele Ballaststoffe enthalten.


Hilfreiche Medikamente

Neigt das Kind trotz aller oben genannten Maßnahmen noch immer zu Verstopfung, ist eine medikamentöse Therapie nötig. Diese sollte grundsätzlich nur nach Rücksprache mit einem Arzt erfolgen. Der Arzt sollte das Kind auf ernsthafte Erkrankungen als mögliche Ursache der Verstopfung untersuchen. Außerdem sollte er die Eltern in der Wahl des richtigen Abführmittels beraten, da sehr viele Abführmittel auf Dauer dem Darm schaden oder zu Abhängigkeit führen. Häufig werden Klistire und Zäpfchen empfohlen, die über Gasentwicklung, wasserziehendes Glycerol oder Salze den Stuhlreflex reizen. Diese Präparate sind auch für Kinder gut geeignet. Eltern von Mädchen mit Rett-Syndrom berichten über gute Erfahrungen mit Mikroklist und Milax-Zäpfchen.

Beim Mikroklist wird das im Stuhl gebundene Wasser freigesetzt. Das austretende Wasser bewirkt eine Dehnung der Darmschleimhaut, wodurch der Stuhlreflex ausgelöst wird. Die Wirkung tritt bereits nach wenigen Minuten ein.

Der wirksame Bestandteil des Milax-Zäpfchens ist Glycerol. Dieses zieht Wasser aus dem Körper in den Darm, wodurch der Stuhl weicher und größer wird. Dieses bewirkt einen Stuhldrang und ein leichteres Abführen. Das Zäpfchen wirkt etwa eine halbe Stunde nach der Anwendung.

Ein weiteres häufig empfohlenes Mittel ist Lactulose. Dieser Zuckerstoff wird nicht vom Körper aufgenommen, sondern zieht Wasser in den Darm, wodurch der Stuhlreflex ausgelöst wird. Lactulose ist ein sanftes Abführmittel, das innerhalb von 2-10 Stunden wirkt. In kleinen Dosierungen kann es auch langfristig angewendet werden. Einige Eltern von Kindern mit Rett-Syndrom empfehlen das Produkt Lactulose neda Sirup. Weitere Mittel können nicht empfohlen werden, da bei allen Abführmitteln sowohl die Wirkung als auch die Nebenwirkungen individuell unterschiedlich sind.

Von den bekannten Hausmitteln wie Glaubersalz, Bittersalz und Rhizinusöl ist generell abzuraten, da sie den gesamten Darm entleeren und dem Körper wichtige Nähr- und Mineralstoffe entziehen. Von pflanzlichen und chemischen Abführmitteln wird ebenfalls abgeraten, da sie auf Dauer abhängig machen. Gleitmittel (z.B. Obstinol) gelten zwar als erfolgversprechend, es besteht jedoch die Gefahr, dass sich die Wirkstoffe im Körper ablagern.

Generell kann noch gesagt werden, dass es sich immer lohnt, nicht medikamentöse Therapien zu testen. Eine Mutter beschreibt beispielsweise eine positive Auswirkung der Krankengymnastik nach Castillo-Morales auf die Verdauung ihrer Tochter. Auch verschiedene Formen von Bauchmassagen haben schon einigen Mädchen geholfen.


Toilettentraining

Es empfiehlt sich, dem Kind einen regelmäßigen Stuhlgang anzugewöhnen. Der beste Zeitpunkt hierfür ist meist nach dem Frühstück oder generell etwa 15 bis 30 Minuten nach den Mahlzeiten. Wichtig ist, dass den Kindern genügend Zeit (etwa 10 Minuten) gelassen wird. Ein passender Aufsatz oder spezieller Toilettenstuhl, der ein entspanntes Sitzen ermöglicht erleichtert das “Geschäft”. Das Training des Toilettengangs sollte möglichst jeden Tag um die gleiche Uhrzeit erfolgen, um dem Körper eine Gewöhnung zu ermöglichen.

Quelle: Das Rett-Syndrom Handbuch von Kathy Hunter

Kau- und Schluckprobleme

Kauprobleme

Aufgrund der Kauprobleme kann das Einnehmen einer Mahlzeit bei einem Mädchen mit Rett-Syndrom bis zu einer Stunde dauern. Das stellt ein großes Problem für die ganze Familie dar.

Ursache für die Kauprobleme der Mädchen sind abnormale Bewegungen der Gesichtsmuskulatur oder der Zunge, die von den Mädchen nicht steuerbar sind. Aufgrund der Wahrnehmungsstörungen der Mädchen kommt es häufig vor, dass sie nicht merken, ob sie etwas im Mund haben, oder sie vergessen es nach einer Weile. In solchen Fällen können Thermo-Stimulantien, z. B. Eis, eingesetzt werden, um die Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern.

Auch Probleme beim Abbeißen werden von Eltern beschrieben. Die Mädchen scheinen nicht genau differenzieren zu können, welche Bewegungen zum Kauen und welche zum Beißen nötig sind. Sowohl für das Abbeißen als auch für das Kauen gilt, dass die Nahrung nur eine Konsistenz haben sollte. Bei unterschiedlichen Konsistenzen, wie z. B. Brühe mit Fleischeinlage, wissen die Mädchen oft nicht, ob sie nun kauen oder trinken sollen.

Schluckprobleme

Beim Schlucken ergibt sich bei den Kindern mit Essproblemen häufig das Problem, dass feste Nahrung und Flüssigkeit in die Luftröhre geraten. Die Koordination der verschiedenen Muskelgruppen, die für das Schlucken verantwortlich sind, funktioniert nicht so, wie bei einem normal entwickelten Kind. Ebenso haben Mädchen mit Rett-Syndrom oft Probleme, den beim Schlucken erforderlichen Mundschluss zu koordinieren. Das führt dazu, dass Nahrung und insbesondere Flüssigkeit wieder aus dem Mund heraustritt. Erfahrungen der Eltern haben gezeigt, dass die Mädchen auch beim Schlucken besser mit einer einheitlichen Konsistenz zurechtkommen. Beim Trinken erweist es sich als sinnvoll, die Flüssigkeit ein wenig anzudicken, damit das Kind die Flüssigkeit auch spüren kann. Um dem Kind den Schluckvorgang zu erleichtern, sollte es sich beim Essen und Trinken immer in einer aufrechten Haltung befinden. Haben Eltern nach der Umstellung auf eine leichter zu schluckende Kost immer noch den Verdacht, dass das Kind Nahrung in die Luftröhre bekommt (Hustenreiz nach dem Schlucken), sollten sie ihr Kind auf die Schluckstörungen hin untersuchen lassen. Der Weg der Nahrung kann in einer Videoaufzeichnung während des Schluckens eines fluoreszierenden Kontrastmittel auf dem Röntgenschirm beobachtet werden. Bei gravierenden Schluckstörungen besteht immer das erhöhte Risiko einer Lungenentzündung. Den Eltern wird in diesem Fall zur Umstellung auf eine Ernährung mittels einer Magensonde geraten. Nicht nur der eigentliche Schluckakt, sondern der gesamte Prozess beim Essen oder Trinken kann für die Mädchen zu einem schwerwiegenden Problem werden. Viele Mädchen sind durch ihre Schluck- und Kaustörungen so stark in ihrer Nahrungsaufnahme behindert, dass Eltern oft gegen Symptome wie Dehydration (Austrocknung) und Unterernährung kämpfen müssen. Auch in diesem Fall wird eine Magensonde empfohlen.


Dehydration

Aufgrund der Schluckstörungen der Mädchen ist es schwierig, dafür zu sorgen, dass es genügend Flüssigkeit erhält. Der Trinkvorgang dauert lange und ist für das Kind sehr anstrengend. Es neigt daher häufig dazu, den Trinkvorgang vorzeitig abzubrechen. Eltern können einen Plan aufstellen und die Trinkmenge dokumentieren. Eine Auflistung des Flüssigkeitsbedarfs für Kinder zur Orientierung ist eingefügt. Die Literangaben sind Mindestangaben.

Flüssigkeitsbedarf bei Kindern

  • Von 1-3 Jahren und 13kg Körpergewicht werden 1l Flüssigkeit benötigt.
  • Von 4-6 Jahren und 20kg Körpergewicht werden 1,3l Flüssigkeit benötigt.
  • Von 7-10 Jahren und 28kg Körpergewicht werden 1,5l Flüssigkeit benötigt.
  • Von 11-14 Jahren und 45kg Körpergewicht werden 1,75l Flüssigkeit benötigt.

Bei ungenügender Trinkmenge kann die Flüssigkeitszufuhr der Kinder durch Eis, Götterspeise, Joghurt und Quark, Obst und Gemüse ergänzt werden. Die Kinder sollten keiner starken Hitze ausgesetzt werden, um weitere Flüssigkeitsverluste zu vermeiden. Hat das Mädchen einen vermehrten Speichelfluss, was ebenfalls häufig beim Rett-Syndrom auftritt, sollte auch dies als zusätzlicher Flüssigkeitsverlust bedacht werden.
Eine dennoch eintretende Dehydration des Körpers macht sich durch folgende Symptome bemerkbar :

  • Verringerte Urinmenge
  • Trockene Lippen
  • Tiefliegende Augen
  • Dunkle Ringe unter den Augen
  • Trockene Haut
  • Vermehrter Durst
  • Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schwindel (beim Rett-Syndrom schwer feststellbar)
  • Gewichtsverlust

Auch die Problematik der Dehydration macht eine Umstellung der Ernährung auf eine Magensonde unabdingbar, wenn sie nicht durch die natürliche Flüssigkeitszufuhr bewältigt werden kann.

PEG / Button

Erfahrungen mit einer PEG-Sonde

Durch Kau- und Schluckprobleme sowie viele Atemauffälligkeiten war die Nahrungsaufnahme für unsere Tochter Patricia schon immer sehr problematisch. Außerdem schlief sie bei jeder Mahlzeit immer wieder ein, da diese Tätigkeit sehr anstrengend für sie war. Einige Male wurde Patricia in den ersten Lebensjahren wegen Nahrungsverweigerung ins Krankenhaus eingeliefert. Sehr zart, sehr klein, kaum Gewichtszunahme (1 kg in einem Jahr – wenn es gut lief) machten die Mahlzeiten zum Spießrutenlauf. Kalorienzählen damit genügend zusammen kamen, die richtige Konsistenz und Temperatur, genügend Zeit (pro Mahlzeit eine Stunde und meeeeehr), die richtige Sitzposition, keine unbekannten Gerichte, mundmotorische Übungen nach Castillo Morales vor jeder Mahlzeit (mit denen wir schon begonnen hatten, bevor sie ein Jahr alt war), gehörten zum Alltag. Da Patricia den Kindergarten nur für drei Stunden täglich besuchte, entfielen dort die Mahlzeiten und Medikamentengabe.

Für ein klitzekleines Frühstück und Getränk konnte man sich dort genügend Zeit nehmen, da eine Integrationskraft für Patricia eingestellt wurde. In der Schule verliefen die Mahlzeiten so schwierig, dass es zu einer Gewichtsabnahme kam. Die Mahlzeiten mussten protokolliert werden, da ich mit der Situation dort sehr unzufrieden war (dies ist aber ein extra Thema). Die Einnahme vom Epilepsie-Medikament (damals Ospolot-Tabletten) war sehr schwierig. Oft behielt Patricia aufgrund von spastischen Störungen die Tabletten einfach in der Wangentasche. Leider löste sich diese dort nicht auf oder wurde mit Speichel herausbefördert. Ich selbst konnte ihr die Tablette tief in den Rachen legen, aber in der Schule gab es immer wieder Probleme, sodass die korrekte Einnahme nicht gesichert war.

Während eines Krankenhausaufenthaltes (Hüft-OP) wurde Patricia für 10 Tage über die Nase sondiert. Atemprobleme und Entzündungen machten es notwendig, dass die Sonde
gezogen werden musste. Ich will nicht beschreiben, wie die Ernährung danach verlief. Das ist ein sehr dunkles Kapitel in unser aller Leben. Patricia wog mit einem Gips von der Hüfte zu
den Zehen im Alter von 7,9 Jahren nur noch 15 Kilo. Ein Jahr später haben wir mit Trink-Sondennahrung ihr Gewicht auf 16 Kilo steigern können.

Wegen einer späteren Nahrungsverweigerung musste Patricia noch einmal im Krankenhaus über die Nase sondiert werden. Das Verlegen des Schlauches war aufgrund von erneuten Schluckstörungen sehr problematisch. Damals wollten weder Ärzte noch wir eine erneute Operation wagen. Erst als Patricias gesundheitlicher Zustand es zuließ, bekam sie die PEG-Sonde im Februar 2009 angelegt. Sie war mittlerweile 10,3 Jahre alt und Mahlzeiten dauerten bis zu zwei Stunden. Mir selber ist das alles nicht mehr so klar vor Augen, man verdrängt ja auch gerne. In den Arztberichten des SPZ kann ich alles zeitlich gut nachvollziehen.

Von da an wurde alles besser.

Wir haben sie sehr langsam an die Sondennahrung gewöhnt. Zuerst einmal täglich 50 ml. bzw. 50 kcal. die Stunde. Im Laufe der Wochen wurde die Menge gesteigert, bzw. der Magen „trainiert“. Parallel dazu wurde und wird Patricia immer noch oral ernährt. Heute bekommt sie morgens und abends 250 ml. bzw. 250 kcal. in einer halben Stunde mittels einer Pumpe sondiert. Die Zwischen- und Hauptmahlzeiten und die verschiedenen Getränke erhält sie oral. Da die Sonde vorher und nachher immer mit stillem Wasser gespült wird, bzw. zur Sondennahrung genügend Flüssigkeit gegeben werden soll, habe ich eine Kontrolle über die Menge der Flüssigkeit, die insgesamt verabreicht wird.

Zu Beginn war es gar nicht so leicht. Die richtige Menge, die richtige Durchlaufgeschwindigkeit (Pumpe oder manuell mit der Spritze) und in welcher Körperhaltung die Nahrung verabreicht werden kann, musste erst herausgefunden werden. Der Magen war ja nicht an große Mengen gewöhnt. Im Sitzen hatte Patricia wohl ein Druckgefühl im Magen. Plötzlich schoss alles aus dem Mund heraus. Ich habe also gelernt, auf ihren Gesichtsausdruck zu achten. Hatte ich das Gefühl, der Magen ist voll, habe ich einfach etwas über die Sonde zurücklaufen lassen und in einem Glas aufgefangen. Klappte prima! Nach dem Sondieren braucht Patricia eine Ruhephase von ca. 20 – 30 Minuten, das heißt, sie wird dann nicht auf den Arm genommen oder gewickelt, sonst wird alles „hochbefördert“. Wir konnten das Gewicht kontrolliert steigern. Patricia hat nun genügend Kraft für die anderen Mahlzeiten und schläft auch nicht mehr dabei ein. In schwierigen Situationen ist eine ausschließliche Sondenernährung möglich. Die Medikamentengabe erfolgt ausschließlich über die Sonde und ist somit besser kontrollierbar (vielleicht hat das auch mit dazu beigetragen, das die Anfälle von zeitweise bis zu 40 am Tag rapide abgenommen haben – seit vier Jahren sogar fast anfallsfrei). Die Mahlzeiten verlaufen entspannter. Heute können wir aus vielen Lebensmitteln eine gute Auswahl treffen, auch wenn noch nicht alles möglich ist. Die Ärzte sprechen von einem guten Ernährungszustand – und das macht uns sehr glücklich.

Die Sonde bietet noch einige andere Vorteile.

Essen, Trinken, Spielen, Lernen, Therapie sind alles sehr anstrengende Tätigkeiten. Ich gebe Patricia vorher immer etwas Flüssigkeit über die Sonde – so hat sie mehr Energie für diese Tätigkeiten. Wie beim Sport – auch dabei soll man ausreichend trinken. Patricia ist dadurch auch belastbarer geworden – Tages- und Nachtrhythmus haben mehr Struktur bekommen – mangelnde Nahrung und Flüssigkeit am Tag müssen nachts keinen Ausgleich mehr finden. Außerdem kann ich die tägliche Nahrungsmenge kontrollieren – ist die orale Nahrungsaufnahme sehr gut (schlecht), gibt es weniger (mehr) über die Sonde. Bevor wir einen Termin haben (z. B. längeren Arzttermin, Ausflüge, Feste…) kann ich die Zeit der Nahrungsaufnahme besser einteilen, indem ich die Sondennahrung davor gebe. Unser Familienleben lässt sich dadurch um einiges entspannter planen.

Patricia Sonde sollte so lange wie möglich halten. Aus diesem Grund bekommt sie nur Sondennahrung und stilles Wasser zugeführt. Ich möchte auch vermeiden, dass die Sonde verstopft, auch wenn es viele Berichte darüber gibt, wie man die Nahrung „flüssig“ macht. Säurehaltige Nahrung oder Getränke (z. B. rote Teesorten oder Säfte) greifen den Sondenschlauch an. Natürlich kann man frühzeitig von der PEG-Sonde auf einen Button wechseln. Dies kam für uns nicht in Frage, da für Patricia eine erneute Narkose (notwendig bei einem Wechsel) vermieden werden soll. Die Gründe möchte ich jetzt nicht weiter ausführen. Auch stand noch eine andere schwierige Operation im Raum. Aber auch da sind wir jetzt an einem guten Punkt angelangt. Die Sonde soll noch in diesem Jahr gewechselt werden (Termin ist/war im Juni). Die Sonde hat also gut fünf Jahre ohne Probleme gehalten.

Um überhaupt zu wissen, welche Nahrungsmenge bzw. welche Flüssigkeitsmenge Patricia benötigt, habe ich vor Jahren eine Ernährungsberaterin in Anspruch genommen. Den Kontakt habe ich über die Krankenkasse bekommen, die auch die Kosten übernommen hat. In allen Fragen zur jetzigen Sonden-Situation steht mir eine „Sondenkrankenschwester“ zur Seite. Von ihr wird auch die Bestellung übernommen, das Einholen des Rezeptes, Fragen zur Pflege, Absprache welche Sondennahrung benötigt oder gewünscht wird, Versorgung von Pflegemitteln wie Schlitzkompressen, Ersatz von Adapterstücken, Ersatz von Sondenverschlüssen, und, und, und. Der Kontakt wurde nach der Operation durch das Krankenhaus hergestellt.

Umgang mit der Sonde

Die Pflege der Sonde hat nie Probleme gemacht. Direkt nach der OP galt es natürlich erst die Anweisungen des Arztes zu befolgen, um Wundinfektion oder im schlimmsten Fall eine Bauchfellentzündung zu vermeiden. Bei guter Anweisung und Pflege ist das wohl eher selten der Fall. Das Adapterstück reinige ich in einem Glas mit klarem Wasser. Damit der Schlauch bzw. die Rückhalteplatte im Inneren des Magens nicht festwächst, drehe ich den Schlauch in verschiedene Richtungen. Dann lege ich eine Schlitzkompresse locker um den Schlauch unterhalb der Platte, damit diese keinen direkten Kontakt zur Haut hat. Den Schlitz klebe ich dann einfach mit einem Pflasterstreifen zu. Mit einem Heftpflaster für sensible Haut klebe ich den Schlauch seitlich der Bauchöffnung fest, damit dieser nicht verrutscht. Das Schlauchende kann ich unter den umgeschlagenen Rand der Windel (außen, nicht nach innen) legen. Patricia trägt Hemd und Höschen, so kann ich jederzeit den Sondenschlauch hervorholen. Spezielle Unterwäsche, wie man sie gerne anbietet, benötigt man nicht unbedingt.

Sollte man mal eine Pflege- oder Wundcreme benötigen, eignet sich hier Bepanthen Nasensalbe. Die Zusammensetzung ist für Schleimhäute geeignet. Andere Wundsalben fördern ein Zusammenwachsen der Bauchöffnung. Auskünfte bekommt man darüber über die Apotheke. Aus hygienischen Gründen ist auch eine kleine Tube vorzuziehen. Baden bereitet keine Schwierigkeiten. Bei Badezusätzen sollte man beachten – was nicht geschluckt werden darf, sollt auch nicht über die Bauchöffnung in den Magen gelangen. Manchmal wird empfohlen mit einer Kompresse und einem Pflaster die gesamte Bauchöffnung abzukleben. Dies ist aber nur am Anfang notwendig. Bei einer guten Pflege freut sich die Haut über viel Luft.

Letztendlich denke ich aber, dass jeder seine eigene Erfahrung sammeln muss und auch seine eigene Vorstellung zum Thema „Nahrung“ finden sollte.

Und das finde ich an der Elternhilfe so wichtig und beruhigend – den persönlichen Kontakt zu Betroffenen.

(Auszug RettLand 33)

Spastik

Dr. Volker Diedrichs Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH)
Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
Kinder – und Neuroorthopädie, 24105 Kiel, November 2004

www.bewegungsdoktor.de

Einleitung

Viele neurologische Erkrankungen verursachen Bewegungsstörungen mit der Folge zuneh­mender Verformungen (Deformitäten) im Bereich des Bewegungsapparates (z. B. Hüftausren­kungen, Wirbelsäulenfehlformen, Fußfehlformen), Funktions- und Fähigkeitsverluste (z. B. Stehen, Gehen), Wahrnehmungsstörungen (z. B. des eigenen Körpers und der Umwelt) und Verschlechterung der sozialen Integration (Isolation). Zahlreiche neurologische Erkrankungen haben ähnliche Symptome (z. B. Spastik, Ataxie). Die Behandlung der Neuroorthopäden zielt nicht auf die Heilung der ursächlichen Erkrankung ab, was den Neurologen obliegt, sondern auf die Linderung von deren Erscheinungsformen. Dabei stehen aktuelle Beschwerden im Vor­dergrund (z. B. Schmerzen). Gleichzeitig hat die Behandlung die weitere Entwicklung von Jahren und Jahrzehnten im Blick. Nicht allein die schnelle Funktionsverbesserung (z. B. Gang­bild, Sitzfähigkeit), sondern auch der lange Erhalt der Funktion entscheidet über die Wahl der Therapie. Manchmal erkauft man sich durch eine geringe Funktionsverschlechterung, was in der Schienenbehandlung schon mal der Fall sein kann, einen längeren Erhalt der Funktion. Manche Funktionen werden ohne Hilfsmittel durch Ausgleichsbewegungen aufrechterhalten, was dann auf Dauer zu schweren Folgeschäden führen kann. Als Beispiel sei der Plattfuß beim typischen spastischen Kauergang genannt. Je zahlreicher die Therapiemöglichkeiten eines Be­handlungsteams sind, je größer die Erfahrung und auch das Altersspektrum der Patienten ist, desto individueller kann die Behandlung für die Patienten entwickelt werden. Ein Behand­lungszeitraum von einigen Monaten oder Jahren, z. B. nur während der Kindheit, ermöglicht nicht den therapeutischen Weitblick, der für die Behandlung von langsam fortschreitenden Folgeschäden notwendig ist. In der Neuroorthopädie ist eine kontinuierliche Therapie der Kinder ins Erwachsenenalter hinein erforderlich. Eine Trennung zwischen der therapeutischen Betreuung von Kindern und Erwachsenen mit einem Bruch im 18. Lebensjahr ist für die Wahl und Anwendung der Behandlungsmethoden wenig sinnvoll.

Bei vielen Mädchen mit Rett-Syndrom entwickelt sich ab dem 2. bis 4. Lebensjahr ein Verlust der Gehfähigkeit bis hin zur Rollstuhlbedürftigkeit aufgrund von Bewegungsstörun­gen. Diese Bewegungsstörungen werden durch Ataxie (Störung der räumlichen Bewegungspla­nung; »Daneben-Greifen«) und Spastik hervorgerufen. Außerdem entwickeln sich Fehlformen der Wirbelsäule (sog. Kyphoskoliose), die eine gute Sitzfähigkeit gefährden kann.


Was ist Spastik?

Die gängige Definition lautet: Spastik ist eine Bewegungsstörung mit gesteigerter Muskelspan­nung (Muskeltonus), die bei passiver Dehnung auftritt und deren Ausmaß von der Dehnungs­geschwindigkeit abhängt.

Also: Die Spastik zeigt sich als erhöhte Muskelspannung. Diese Spannung zeichnet sich da­durch aus, dass sie mit der Geschwindigkeit der Bewegung zunimmt und dabei die Bewegung abrupt abbremst. Eine langsame und vorsichtige Bewegung löst keine Spastik aus. Die Dehnung wird als »passiv« bezeichnet, da sie nicht durch eine selbstständige aktive Bewegung des Betroffe­nen, sondern durch eine andere Person durchgeführt wird. Eine Spastik, die durch die Bewegung (z. B. Gehen) des Betroffenen selbst hervorgerufen wird, nennt man »Aktionsspastik«.

Streckung und Beugung in einem Gelenk werden durch eine Verkürzung entweder der Streck- oder der Beugemuskulatur erreicht. Dabei muss sich die jeweils gegenüberliegende Muskulatur dehnen. Man spricht bei einer Bewegung in einem Gelenk auch von Agonisten (Spieler) und Antagonisten (Gegenspieler). Die Agonisten verkürzen sich und gleichzeitig wer­den die Antagonisten gedehnt. Bei einer Spastik sind sowohl Agonisten als auch Antagonisten betroffen. Eine von beiden Muskelgruppen ist allerdings stärker gegenüber der anderen, so dass in dem Gelenk bei Spastik eine Bewegung in Richtung der stärkeren Muskulatur aus­geführt wird. Es handelt sich dabei um eine Muskelimbalance: Agonist und Antagonist stehen in einem nicht gut ausbalancierten Verhältnis zueinander.


Spastik beim Rett-Syndrom

Als Beispiel sei das Kniegelenk genannt. Es gibt Streck- oder Beugespastiken. Beim Rett-­Syndrom sind es in der Regel Beugespastiken. Die Beugemuskulatur am hinteren Oberschen­kel (Ischiocrurale Muskulatur) ist in dem Falle stärker gegenüber der Streckmuskulatur (M. quadriceps). Es kommt zu einer Beugung im Kniegelenk.

Das spastische Muster beim Rett-Syndrom ist nicht so auffällig, wie es erwartet werden könnte, wenn die Diagnose »spastische Lähmung« lautet. Es wird sich dann eher der »typische Tetraspastiker« vorgestellt, bei dem Arme und Hände stark gebeugt, angespreizt und nach innen gedreht sind und die Beine in Hüft- und Kniegelenk in Streckstellung gehalten werden. Die Spastik beim Rett-Syndrom ist eher »versteckt«. Sie ist allerdings in ihrer Wirkung so stark, dass es schon in jungen Jahren zu Ausrenkungen der Hüftgelenke und zu Deformitäten der Wirbelsäule kommen kann.


Ursachen und Auslöser von Spastiken

Die Ursache der Spastik ist bedingt durch eine Störung des 1. Motoneurons. Dabei handelt es sich um diejenige Nervenbahn, die aus den Bewegungszentren des Hirns ins Rückenmark zieht. Hirn und Rückenmark werden als zentrales Nervensystem bezeichnet (ZNS). Im Rü­ckenmark werden die Bahnen mit Nerven (2. Motoneuron) verbunden. Diese Nerven ver­sorgen die Muskulatur von Armen, Beinen, Rumpf und Kopf. Eine Schädigung des 2. Motoneurons führt zu einer schlaffen Lähmung ohne Spastik. Im Rückenmark können die Nerven, die zur Muskulatur ziehen, nicht nur durch das 1. Motoneuron aktiviert werden. Sie können durch dieses auch gehemmt werden. Diese Hemmung ist bei einer spastischen Lähmung nicht mehr möglich und die Muskulatur unterliegt unkontrollierbaren Automatismen, sog. Eigenre­flexen und andauernden Stellreflexen, die als Spastik sichtbar werden. Es gibt eine ganze Reihe von Theorien, die versuchen, das Phänomen der Spastik zu erklären. Diese Beschreibung ist sicherlich sehr vereinfacht.

Die Auslöser einer Spastik sind vielfältig. Es können Reize von außen aus der Umwelt oder von innen aus dem Betroffenen selbst sein. Ohne einen Reiz gibt es keine Spastik. Ist der Betroffene vollkommen ruhig, so wird keine Spastik ausgelöst. Das ist z. B. im Liegen ohne äußere oder innere Reize der Fall. Ein Zustand, der praktisch nicht zu erreichen ist. Äußere Reize können Bewegungen, Schmerzauslöser (z. B. Druckstellen von Schienen, Gelenkfehlstel­lungen) oder Schrecksituationen (z. B. Lärm, Licht, Kälte, Wärme, Berührung) sein. Innere Reize können emotionale Erregungzustände (z. B. Freude, Angst, Wut) sein.


Was sind die Folgen der Spastik?

Spastik verursacht auf Dauer Folgeschäden. Sie werden als »neurogen«, also als Folge einer neu­rologischen Grunderkrankung bezeichnet. Der Schlüssel zum Verständnis der Folgeschäden ist das Wissen um die oben beschriebene Muskelim­balance. Zum Einen bewirkt eine kontinuierlich erhöhte spastische Muskelspannung eine struktu­relle Verkürzung der Muskulatur. Zum Anderen werden die Gelenke permanent über- und fehlbe­lastet. Spastische Muskulatur baut sich im Verlauf des Lebens bindegewebig um. Die funktionellen Einheiten der Muskulatur werden durch starres und festes Gewebe ersetzt. Die Beweglichkeit nimmt ab.

Die Über- und Fehlbelastung der Gelenke führt zu vorzeitigem Verschleiß, zu Schmerzen, Verfor­mungen, Ausrenkungen oder Einsteifungen. So­wohl aus den Veränderungen im Muskel selbst, wie auch in den Gelenken resultiert eine Unbe­weglichkeit mit Verlust der eigenen Mobilität ge­paart mit Schmerzen.

Sichtbar werden diese Folgeschäden als Wir­belsäulendeformitäten , Ausrenkungen in den Hüftgelenken und Deformitäten der Füße.

Wie kann bei Spastik behandelt werden?

Ziel der Behandlung von Spastik ist die Spastik­hemmung, die Verminderung Spastik auslösender Reize (s. o.) und die Verbesserung der Muskelba­lance. Zum Einen sollte die Wahrnehmung so verändert werden, dass normalerweise Spastik auslösende Reize nicht mehr als solche wirken. Zum Anderen sollte die Muskulatur in einem Zustand sein, in dem spastische Nervenimpulse die Muskelspannung nicht mehr erhöhen kön­nen. Durch eine möglichst geringe Spannung ist die Funktion besser und Folgeschäden entwickeln sich langsamer. Dies kann durch Physiotherapie, Ergotherapie, Schienenbehand­lung, Lagerung, Botulinumtoxin und andere antispastische Medikamente (z. B. Baclofen) und letztendlich auch durch Operationen erreicht werden. Dabei er­setzt nicht eine Therapieform die andere. Sie ergänzen sich gegenseitig und werden gleichzeitig durchgeführt. So macht die Physiotherapie oder eine Operation eine Behandlung mit Schienen nicht überflüssig. Wichtig bei der Therapie ist, dass nicht allzu schnell die Situation entsteht, den Folgeschäden »hinterher arbeiten« zu müssen. Im Wissen um die mögliche zukünftige Entwicklung wird vorsorglich (prophylaktisch) gehandelt.


Therapieformen

Basis des Therapieschemas ist die Physiothera­pie auf neurophysiologischer Basis (z. B. Bobath, Vojta). Bewegungsmuster, die durch die spastische Reflexaktivität entstehen, sollen gehemmt werden und »normale« Bewegungsmuster sollen gebahnt werden. Zudem sollte die spastische Muskulatur regelmäßig gedehnt werden, um einer strukturel­len Verkürzung entgegenzuwirken.

Parallel zur Physiotherapie wird Ergotherapie durchgeführt. Physio- und Ergotherapie arbeiten Hand in Hand. Die Ergotherapie erprobt Hilfs­mittel und macht sie alltagstauglich. Sie erarbeitet Abläufe des täglichen Lebens (Handfunktionen, Körperpflege) und lässt sie zur Routine werden. Sie sucht Wege, die Wahrnehmung zu verbessern und die Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Die Umwelt der Patienten sollte Interesse und Anreize zur Kontaktaufnahme herausfordern.

Dritte grundlegende Säule der Therapie ist die Schienenbehandlung (Orthetik). Bei Mädchen mit Rett-Syndrom ist eine sogenannte »Informati­ve Orthetik« zu empfehlen. Diese Orthetik führt zur Spastikhemmung durch Dehnung (Redressi­on), beugt zunehmenden Muskelverkürzungen vor, verbessert die Gelenkstellung und verändert die Wahrnehmung (Eigenwahrnehmung, Umwelt). Die Orthesen sollen die Patienten vor der Spastik »schützen«. Zum Einen kann der gedehnte Muskel nicht mehr auf Nervenimpulse mit einer schnellen Verkürzung reagieren. Zum Anderen fühlen sich die Patienten in den Orthesen »siche­rer«. Die Angst vor der Umwelt mit ihren Spastik auslösenden Reizen wird reduziert und kann da­durch wieder uneingeschränkter wahrgenommen werden. Die Patienten werden aufmerksamer und kommunikationsfähiger.


Fühlen Spastikpatienten sich in den Orthesen eingesperrt?

Vergleichbar ist die Situation ein wenig mit einem »Höhenkranken«, der auf einem sehr hohen Turm steht. Erst ein sicheres Geländer wird es ihm möglich machen, an den Rand zu gehen und hinunterzuschauen. Die Plattform, auf der er steht, ist mit und ohne Geländer dieselbe. Er kann auf ihr im Prinzip genau so sicher stehen, wie auf dem Boden vor dem Turm. Auf dem Turm sieht er aber die Tiefe, die ihn bedroht. Das Geländer verändert seine Wahrnehmung für die Situation so sehr, dass er sich sicherer fühlt. Ein Nicht-Höhenkranker wird dieses Verhalten als merkwürdig empfinden. Genauso wird ein »Gesunder« zunächst den Eindruck haben, ein spastischer Patient mit Beinschienen, Sitzschale und Korsett müsse sich einge­sperrt fühlen. Erst das Wissen um die Hintergründe von Spastik mit den dazu gehörenden Wahrnehmungsstörungen wird ihn die Therapie verstehen lassen.

Diese Form der Therapie ist in unserem Haus seit Jahrzehnten bei jedem Patienten aufs Neue auf dem Prüfstand. Es ist der deutlich sichtbare Effekt mit der positiven Rückmeldung der Patienten, der dieser Art der orthetischen Versorgung ihre Rechtfertigung gibt.


Vorteile von Orthesen

Hauptelement der Beinschienen ist der sogenannte Hessingschuh (Walklederschuh). Die Formgebung ermöglicht eine Positionierung des Fußes in jeder möglichen Stellung. Dadurch kann die spastikhemmende Stellung unter Berücksichtigung einer guten Gelenkstellung opti­mal gehalten werden. Der spastikhemmende Effekt ist dabei nicht auf die Unterschenkel- und Fußmuskulatur reduziert, sondern betrifft durch eine komplexe Verschaltung im Rückenmark den gesamten Körper (Stellreflex, Totalreflex).

Des Weiteren ermöglicht das Material eine Verbesserung der Eigenwahrnehmung (Informa­tion, Support) mit der Folge der besseren Kontrolle über die Stellung im Raum. Bei der Korsettversorgung von Mädchen mit Rett-Syndrom ist Leder als Material, Kunststoffen wegen der besseren Eigenwahrnehmung und des angenehmeren Tragekomforts vorzuziehen. Nicht allein das Design darf die Zufriedenheit der Patienten mit den Hilfsmitteln bestimmen. Funktionalität und Passgenauigkeit müssen den vollen medizinischen Sinn erfüllen.


Komplikationen durch Spastik

Eine Komplikation bei zunehmender Skoliose ist die Gefahr der Lungenentzündung. Zahl­reiche Fälle von Patienten mit schwersten spastischen Skoliosen und dadurch häufig auftre­tenden Lungenentzündungen haben gezeigt, dass eine entsprechende Versorgung mit Korsett zur besseren Entfaltung der Lungen, dadurch zur besseren Belüftung und zur Prophylaxe von Lungenentzündungen führt.

Die Orthesenversorgung nach Operationen zeigt immer wieder, dass die Schienen nicht zur Schwächung der Muskulatur führen müssen. Nach den langen Liegezeiten in Gipsverbänden sind die Muskeln deutlich zurückgebildet. In den folgenden Monaten wachsen sie dann häufig so stark, dass Weitungen der Orthesen notwendig werden. Auch die Dehnung, die aufgrund der Orthesen auf die Sehnen ausgeübt wird, ruft einen Wachstumsreiz hervor. Auf der anderen Seite würden wir uns eine Schwächung zumindest der dominierenden spastischen Muskulatur wünschen, um die Muskelbalance zu verbessern.


Bei der Anpassung ist Fachwissen gefragt

Die Anpassung von Orthesen bedarf großer Erfahrung, um durch die falsche Wahl oder eine mangelhafte Anfertigung die Spastik nicht zu verstärken (Schmerzen können Spastik auslösen). Außerdem werden alle Orthesen zunächst simuliert, um zu erproben, ob eine Schienenbehand­lung möglich und sinnvoll ist. Es geht nicht darum, die Patienten unter allen Umständen in die Orthesen zu zwängen. Die Orthesen sind erst dann funktions- und passgerecht, wenn z. B. die Füße in einer spastikhemmenden Stellung wie von selbst in die Schiene gleiten. Die Hilfsmit­tel werden grundsätzlich vom verordnenden Arzt persönlich überprüft und abgenommen.

Eine Hilfsmittelversorgung beginnt in der Regel »von unten nach oben«, um den Patienten eine sichere und ruhige Basis zu geben. Jede Bewegung geht einher mit einer Lageveränderung im Raum. Hieraus ergeben sich eine Schwerpunktverschiebung und eine Änderung der Stellung und Belastung aller Gelenke. Diese Veränderungen müssen bei jeder Bewegungsaktivität im Bereich des gesamten Körpers kompensiert werden (Alois Brügger). Will heißen, dass gerade bei einer unsi­cheren und wackeligen Basis (Füße, Beine, Hüften), der gesamte übrige Körper (Rumpf, Kopf, Arme, Hände) dieses Ungleichgewicht ausbalancieren muss. Eine freie und stabile Haltung ist so nicht möglich. Rumpf und Kopf stehen nicht im Lot und werden zum Gewichtsausgleich verlagert. Dadurch sind Arme und Hände nicht frei für Tätigkeiten. An eine freie Wahrneh­mung der Umwelt ist nicht zu denken, weil die größte Aufmerksamkeit der Erlangung und Erhaltung des Körpergleichgewichts gilt.

Mädchen mit einem Rett-Syndrom sind in erster Linie Sitzer. Die Sitzposition sollte eine gute Basis schaffen, so dass Rumpf, Kopf, Arme und Hände gut ausbalanciert sind, damit eine mühelose freie Beweglichkeit ermöglicht wird, um die Wahrnehmung der Umwelt nicht zu stören. Die spastische Muskelspannung sollte möglichst reduziert werden und die Gelen­ke sollten so optimal geführt werden, dass Fehlstellungen mit Schmerzen und Ausrenkungen vorgebeugt wird.

Physiotherapie, Ergotherapie, Orthesen und Lagerung sollten aus neuroorthopädischer Sicht grundsätzlich dauernde Therapien bei Spastikern sein, so auch bei Mädchen mit Rett-Synd­rom. Die Therapie mit Botulinumtoxin und Operationen sind zusätzliche Maßnahmen, die in entsprechenden Situationen notwendig werden können.


Therapie mit Botulinumtoxin

Die Therapie mit Botulinumtoxin führt zu einer Reduzierung der spastischen Muskelspan­nung. Es handelt sich bei der Substanz um ein Nervengift, das die Übertragung der Nerven­impulse auf den Muskel verhindert. Der Muskel wird gelähmt. Allerdings nur vorübergehend, durchschnittlich 3 bis 6 Monate, und nur sehr punktuell. Die Wirkdauer ist unterschiedlich und kann nur begrenzt vorhergesehen werden. Die Substanz wirkt nur direkt an der Stelle, wo sie in den Muskel eingespritzt wurde. Dadurch ist eine ganz gezielte Therapie unter Aus­wahl einiger bestimmter Muskeln möglich. Ein Vorteil gegenüber Medikamenten, die auf die gesamte Muskulatur und den übrigen Organismus wirken. Geschwächt wird der dominante spastische Muskel, so dass sein Gegenspieler wieder die Möglichkeit bekommt, aktiv an der Bewegung eines Gelenkes teilzunehmen. Kinder profitieren besonders von Botulinumtoxin, da Fähigkeiten (z. B. Stehen, Gehen), die während des Wirkeffektes erlernt werden, im noch formbaren Gehirn eingraviert werden und auch bei nachlassender Wirkung andauern. Die Dosierung und die Auswahl der zu behandelnden Muskulatur sind von der Erfahrung der Behandler abhängig. Ideal ist eine ausführliche Befundung (Statuserhebung) im Team mit Phy­sio- und Ergotherapeuten. Sie sollte auf Video dokumentiert und sowohl vor der Therapie als auch nachher durchgeführt werden.

Ein Nachteil ist, dass die Behandlungen regelmäßig wiederholt werden müssen. Die Abstände betragen 3 Monate bis 1 Jahr und sind abhängig von Intensität und Dauer der Wirkung. Wenn die Hüftbeuger behandelt werden müssen, so sollte das unter Narkose durchgeführt werden, da der Muskelbauch des stärksten Hüftbeugers (Musculus psoas) im Bauchraum liegt. Außerdem ist ohne Narkose die häufig hohe Zahl der Spritzen sehr unangenehm. Trotzdem überwiegen die Vorteile bei Weitem, so dass in unserer Klinik seit ca. 9 Jahren die Therapie durchschnitt­lich 350-mal im Jahr angewendet wird. Es ist schon auffallend, dass sich seit der Einführung der Therapie mit Botulinumtoxin die Zahl der notwendigen Operationen reduziert hat.


Operative Eingriffe

Operationen werden notwendig, wenn nicht-operative Therapien, also konservative Maß­nahmen, nicht mehr ausreichen, um wichtige Funktionen (Stehen, Sitzen) zu erhalten, Schmer­zen zu lindern oder eine ausreichende hygienische Pflege (z. B. Intimbereich) zu ermöglichen. Operationen sind immer die letzte Lösung. Die meisten Operationen sind sog. Weichteilein­griffe. Es werden Sehnen verlängert und Gewebe, das sich im Laufe der Zeit unumkehrbar ver­kürzt hat, gelöst. Zu beachten ist, dass Sehnen nicht durchtrennt, sondern verlängert werden. Durch die Durchtrennung einer Sehne verliert der Muskel seine vollständige Funktion. Da auch der Gegenspieler spastisch ist, wird auf Dauer aus einer Fehlstellung in die eine Richtung eine Fehlstellung in die andere. Beim Hüftgelenk wird so z. B. aus einer Anspreizfehlstellung eine Abspreizfehlstellung (Froschhaltung). Bei einer Sehnenverlängerung wird dem stärkeren Muskel etwa die Hälfte der Kraft genommen. Das ist erwünscht, da so der schwächere Gegen­spieler wieder am Gelenkspiel beteiligt werden kann. So wird aus einer Muskelimbalance eine Muskelbalance.

Bei massiven Fehlstellungen und Ausrenkung von Gelenken (z. B. Hüfte, Fuß), werden knö­cherne Umstellungen notwendig, wenn Weichteileingriffe nicht mehr zur Korrektur ausreichen oder Gelenke schon erheblich geschädigt sind.

Die Hüftgelenke spielen eine Schlüs­selrolle bei der Körperbewegung und- lagerung. Von ihnen hängt wesentlich ab, ob Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen noch beschwerdefrei möglich sind. Sie sind die Verbindung zwischen Rumpf und Beinen und entscheiden darüber, ob lotgerecht und ausbalanciert positio­niert werden kann. Ein- oder beidseitige Ausrenkungen, ob vollständig oder auch nur teilweise, führen neben Schmerzen zur Asymmetrie des gesamten Körpers. Wirbelsäulendeformitäten sind häufig durch sie ausgelöst. Um Asymmetrien zu vermeiden, sollte so früh wie möglich mit konsequenten konservativen Therapien begonnen werden. Abwartendes und rein beob­achtendes Verhalten, das auf Hilfsmittel verzichtet und die Lebensqualität scheinbar durch mehr Bewegungsfreiheit verbessert, kann früh zu vermeidbaren Folgeschäden führen, die nur operativ zu therapieren sind. Sie sind bei Spastik häufig schon vorhersehbar, wenn der Zusam­menhang zwischen Spastik und Folgeschäden bekannt ist. Die Kontrolle durch Röntgen der Hüftgelenke gehört zur Routinediagnostik. Wenn Hüftgelenke Dauerschmerzen verursachen, die eine gute Lagerung nicht mehr möglich machen oder wenn sie ausgerenkt sind und zu deutlichen Asymmetrien führen, dann sollten sie operiert werden. Dauerschmerzen und eine nicht körpergerechte Lagerung führen zur Verstärkung der Spastik, so dass sich die Patienten in einem Teufelskreis befinden. Wenn noch möglich, werden Hüftgelenke rekonstruiert oder kor­rigiert. Wenn dies nicht mehr möglich ist, kommen palliative, also Lebensqualität verbessernde Operationen, wie die Hüftkopf-Schenkelhals-Entfernung in Frage. Welche Art der Operation gewählt wird, ist sorgfältig zu entscheiden. Es steht eine ganze Reihe verschiedener Operati­onen zur Verfügung, deren Vor- und Nachteile gründlich und individuell abgewogen werden müssen. Da eine gute Lagerung, wie oben beschrieben, mit der Basis, also mit den Füßen beginnt, sind auch sie häufig Diskussion möglicher Operationen. Alle Arten von Operationen mit ihren Vor- und Nachteilen hier zu nennen und zu diskutieren, würde den Rahmen eines solchen Artikels sprengen.

Zum Abschluss sei noch einmal betont, dass grundlegend für jede Therapie bei Spastik das Wissen um die Prinzipien ist. Spastik wird immer zu langfristigen Folgen am Stütz- und Be­wegungsapparat führen. Eine frühzeitige und konsequente Therapie kann die Folgeschäden verzögern und dadurch Mobilität und Lebensqualität erhalten. Der Erfolg einer Therapie wird sich nach einem Zeitraum von Jahrzehnten messen lassen müssen, nicht nach Wochen oder Monaten.

»Studiere die Prinzipien, nicht die Methoden.
Wenn wir die Prinzipien verstanden haben,
können wir unsere eigenen Methoden entwickeln.«
(A.B. Gill, 1928)


Dr.med. Volker Diedrichs
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Spezielle orthopädische Chirurgie, Kinderorthopädie, Neuroorthopädie, Technische Orthopädie, Manuelle Medizin
info@bewegungsdoktor.de

Fax: 0431 / 500 24404

Arnold-Heller-Str. 3
24105 Kiel

https://www.uksh.de/plast-chirurgie-kiel/Unsere+Leistungen/Kinder_+und+Neuroorthop%C3%A4die-p-206.html

Epilepsie

Grundsätzlich werden bei den Erscheinungsformen zwei Gruppen unterschieden:

  1. Fokale Anfälle (Störung wirkt sich auf einzelne Gehirnbereiche aus)
    Einfach fokale Anfälle (das Bewusstsein bleibt völlig erhalten)
    Komplex fokale Anfälle (das Bewusstsein ist getrübt)
    Fokale Anfälle mit Entwicklung zu sekundär generalisierten Anfällen (werden zu generalisierten Anfällen)
  2. Generalisierte Anfälle (Störung wirkt sich auf das gesamte Gehirn aus)
    Absencen (Bewusstseinspause)
    Myoklonische Anfälle (mehr oder weniger stark ausgeprägte Muskelzuckungen)
    Klonische Anfälle (wiederholte schüttelnde Zuckungen)
    Tonische Anfälle (allgemeine Versteifung der Muskulatur)
    Tonisch-klonische Anfälle (Versteifung sämtlicher Gliedmaßen, symmetrischen Zuckungen, Atemstillstand und erschwerte Atmung)
    Atonische Anfälle (Verringerung der Muskelspannung)

Bei Mädchen mit Rett-Syndrom können sowohl fokale als auch unterschiedliche generalisierte Anfälle auftreten. Häufig treten bei einem Kind sogar mehrere Krampfbilder auf. Anfälle, die länger andauern oder in Serien auftreten, werden als Status epilepticus bezeichnet. Ein Status epilepticus tritt zwar sehr selten auf, ist aber immer lebensbedrohlich, da er zum Zusammenbruch des Herz-/Kreislaufsystems führen kann. Eltern oder Betreuer der Kinder sollten immer mit den Verfahrensweisen in solchen Notfällen vertraut sein und die nötigen Notfallmente greifbar haben. Zeitangaben über einen Beginn eines Status sind sehr schwierig zu machen, da dieser bei nahezu jedem Kind unterschiedlich ist. Besteht jedoch für den Beobachtenden ein akuter Verdacht, dass ein Status vorliegt, so sollte er ein vom Arzt verordnetes Notfallmedikament verabreichen. Ändert sich der Zustand des Kindes nicht nach ca. 5-10 Minuten, so kann man die Gabe wiederholen. Tritt auch dann keine Besserung ein, erfolgt die Einweisung in die Klinik als Notfall!

Aus vielen Erfahrungsberichten der Eltern geht hervor, dass sich die Auswahl der richtigen Antiepileptika als äußerst schwierig darstellt. Auch hier ist es sehr wichtig, dass sich die Eltern und der behandelnde Arzt intensiv austauschen. Zwar gibt es grundlegende Empfehlungen der Mediziner, welcher Wirkstoff bei bestimmten Krampfanfälle wirksam ist, dennoch gibt es kein Patentrezept. Aufgrund der vielen Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und der individuellen Verträglichkeit eines oder mehrerer Präparate (viele Kinder bekommen mehrere Antiepileptika), kann es sein, dass ein Medikament oder eine Medikamentenkombination bei einem Kind das Mittel schlechthin zu sein scheint und bei dem nächsten eine deutliche Zustandsverschlechterung bewirkt. Es gibt, gerade unter Rett-Mädchen, auch viele therapieresistente Patienten, bei denen das richtige Medikament (oder die richtige Kombination) erst nach Jahren gefunden wird.

Verhaltensveränderungen können mit der Gabe eines bestimmten Antiepileptikums oder einer bestimmten Kombination zusammenhängen. Häufig treten dann zunehmende Antriebsarmut, Appetitlosigkeit oder geistige Abwesenheit auf. Nebenwirkungen sollten nicht unterschätzt werden und erfordern regelmäßige ärztliche Kontrollen. Es gibt auch Eltern, die aufgrund zu vieler Nebenwirkungen und mangelnder Verbesserung des Anfallsleidens ganz auf Antiepileptika verzichten. Die Notfallmedizin sollte jedoch in jedem Fall vorhanden sein.

Die einzige alternative Therapieform für Epilepsien, die bisher Erfolge gebracht hat, ist die ketogene Diät, bei der die Kinder extrem fetthaltig ernährt werden. Dadurch verändert sich der Stoffwechsel und man kann bei einigen Kindern mit medikamentenresistenter Epilepsie eine deutliche Verbesserung erreichen. Die Anwendung der Diät ist jedoch noch umstritten, da auch sie schwere Nebenwirkungen mit sich bringen kann. Bei vielen Kindern ist es fast unmöglich die Diät streng einzuhalten, weil sie die sehr einseitige Ernährung verweigern.

Atemprobleme

Häufig treten bei Kindern mit Rett-Syndrom Probleme mit der Atmung auf. Diese äußern sich in

  • Luftschlucken
  • Hyperventilation
  • Luftanhalten

Die Art, Häufigkeit und Ausprägung dieser Anomalien ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Bei manchen Mädchen sind sie deutlich erkennbar und manchmal sind sie so versteckt, dass die Eltern sie kaum bemerken. Die Atmungsprobleme bestehen gewöhnlich nur im Wachzustand, nicht in der Nacht und häufen sich bei emotionalem oder psychischem Stress. Häufig werden die Unregelmäßigkeiten bei der Atmung von den Eltern als epileptischer Anfall gedeutet, da sie ihnen in der Erscheinungsform ähneln können. Als Ursache dieser Probleme wird eine gestörte Koordination des Atemzentrums im Hirnstamm angenommen. Bei der Mehrheit der Mädchen mit Rett-Syndrom verringern sich die Atmungsprobleme mit zunehmendem Alter.

Luftschlucken (Aerophagie)

Viele Mädchen mit Rett-Syndrom schlucken große Mengen Luft, was zunächst im Magen Probleme bereitet, da es zu einer sichtbaren Ausdehnung des Oberbauches führt. Der Magen dehnt sich und steht unter sehr großer Spannung, was wiederum zu Schmerzen und im schlimmsten Fall zu Einrissen der Magenwand führen kann. Wird die Luft aus dem Magen mit der Nahrung in den Verdauungstrakt weitergeleitet, verlagern sich die Probleme in den Darm. Dort kann eine Ansammlung von Luft zu einer Ausdehnung des Unterleibes führen und mit schmerzhaften Krämpfen verbunden sein. Da das Luftschlucken häufig für die Eltern sehr schwer zu erkennen ist, werden im Folgenden einige Anzeichen und Symptome dargestellt, die mit Luftschlucken einhergehen:

  • Stets hörbares Schlucken (auch im Schlaf)
  • Schwere Schluckstörungen mit offensichtlichem Luftschlucken beim Essen oder Trinken
  • Ausdehnung des Oberbauches
  • Ausdehnung des Unterleibes
  • Häufiges Aufstoßen
  • Häufiger Abgang von Winden

Wenn der Verdacht naheliegt, dass das Kind zu viel Luft schluckt, sollten – soweit möglich – folgende Maßnahmen ergriffen werden:

  • Reduzierung von Stress, Unbehagen und Langeweile
  • Aufrechtes Hinsetzen nach dem Essen, damit das Kind aufstoßen kann
  • Möglichst Vermeidung von Verstopfung

Bleiben diese Maßnahmen ohne Erfolg, so dass bei dem Kind weiterhin eine schwere Ausdehnung des Unterleibes oder Oberbauches zu beobachten ist, sollte ein Arzt aufgesucht werden. Bei manchen Kindern hilft die Gabe von Verdauungshilfen in Form von Sab simplex, Lefax-Medikamenten mit dem Wirkstoff Simeticon/Dimeticon. Sollte es keine einfache Lösung des Problems geben, wird der Arzt eventuell zum Anlegen einer Magensonde raten, wodurch die Luft abgelassen werden kann und Magen und Darm entlastet werden.

Hyperventilation

Mit Hyperventilation werden Phasen mit übersteigerter Atmung bezeichnet. Das Kind atmet in hoher Frequenz und in tiefen Atemzügen. Häufig wird die Hyperventilation von Phasen des Luftanhaltens (Apnoe) unterbrochen. Folgende Auffälligkeiten können beobachtet werden, wenn das Kind hyperventiliert:

  • Das Kind wirkt aufgeregt.
  • Es zeigt zunehmend Handstereotypien.
  • Die Pupillen sind erweitert.
  • Die Herzfrequenz ist beschleunigt.
  • Das Kind führt schaukelnde Körperbewegungen aus.
  • Es hat einen erhöhten Muskeltonus.

Das tiefe Atmen während der Hyperventilation entzieht dem Körper mehr Kohlendioxid als gewöhnlich. Kohlendioxid wird vom Menschen für die Aufrechterhaltung des Säure-Basen-Haushaltes benötigt, um eine normale Zellfunktion zu ermöglichen. Wenn der Gehalt an Kohlendioxid sinkt, können die Zellen nicht richtig arbeiten. Der Kohlendioxidmangel kann bei dem Kind Schwindel und Fingerzittern erzeugen. Während starker Hyperventilationsphasen ist die Sauerstoffversorgung des Gehirns mangelhaft. Generell ist die Hyperventilation bei Rett-Syndrom jedoch nicht als bedrohlich anzusehen, da sich die Atmung erfahrungsgemäß wieder von allein normalisiert.

Luftanhalten (Apnoe)

Das Luftanhalten ist das Symptom, das vielen Eltern die meisten Sorgen bereitet. Während der Atem angehalten wird, sinkt der Sauerstoffspiegel im Blut. Dies kann zu einer Blaufärbung der Lippen, anderer Extremitäten oder sogar zu kurzzeitigem Bewusstseinsverlust führen. Normalerweise beginnt das Kind jedoch von selbst wieder zu atmen. Viele Eltern berichten davon, dass sie dem Kind einen leichten Klaps geben, ins Gesicht blasen oder kalte Waschlappen in den Nacken legen, um die Atmung wieder in Gang zu bringen. Gerade wenn man diese Phasen zum ersten Mal beobachtet, erscheinen sie sehr besorgniserregend. Aus Erfahrung von Eltern und nach Meinung von Experten ist jedoch trotzdem eine ruhige und abwartende Haltung zu empfehlen. In den seltenen Notfällen, in denen das Kind nicht wieder von alleine zu atmen beginnt, muss es beatmet werden. Eltern und mit der Betreuung beauftragte Personen sollten Kenntnis von diesem möglichen Notfall haben und mit Erste-Hilfe-Maßnahmen vertraut sein.

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